Literatur zur Zeit

Konzepte

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Ach wie gut, daß niemand weiß

Kerstin Hensel

So kurz die Beispiele sind, so deutlich zeigen sie die sich über die   Jahrhunderte gewandelte Ästhetik der Körperbeschreibung, bzw. des Umgangs mit Sexualität in der künstlerischen Literatur. Getreu dem Motto Wer Epicuren nicht vor seinen Lehrern hält / der hat den Weltgeschmack / und allen Witz verloren, hatten die Barockdichter die ARS EROTICA erfunden. Es ist die Lust an der Wollust. Nicht um ganzheitliche Liebe geht es in den Versen, sondern um das Besiegen der Vergänglichkeit mittels erotischer Kunst. Dies geschah heiter und galant. Der Barock verfügte über ein raffiniertes Benennungssystem für sexuelle Vorgänge: für Geschlechtsteile und Copulation standen hunderte von Metaphern zur Verfügung. Der Körper ist Das gelobte Land. Was heute in der Literatur mit Samenerguß und Ejakulat bezeichnet wird, hieß vor 300 Jahren Anmuths-Perlen und Wollust-Thau. Die heutige Zivilisation kennzeichnet eine SCIENTA SEXUALIS. Der Rumpelstilzcheneffekt ist programmiert. Barocke Dichter hatten nicht das Ziel, ein Tabu zu brechen: Sie hoben die Kunst über die pure Sexualität und bewahrten sich damit vor Zynismus. Auch die Klassiker verschlüsselten, was offen zu sagen einfach langweilig gewesen wäre. Hätte Goethe, anstatt in einer »Römischen Elegie« Unflat von oben und unten! zu klagen, geschrieben: Verdammte eitrige Syphillis! hätte der Leser gesagt: Was geht mich das an, es ist nur eklig. Auch Goethe sah sich nicht als Tabu-Brecher: er hat die Dinge verpackt und somit kunstfähig gehalten. Nach Goethes Tod, als die verlogene Salonkultur der Gründerzeit ihre veklemmten Spielchen ausgepielt hatte, war es an den Dichtern des Naturalismus, die Masken herunterzureißen. Das betraf natürlich auch Körperdarstellung und Sexualität. Der Gesellschaft wurde der Spiegel der Verkommenheit vorgehalten. Die Offenheit ging bis ins Psychiatrische. Texte von Conradi oder Bahr, aber auch von Hauptmann, Nietzsche u.a. hatten die unverschlüsselte Darstellung von Perversionen zum Inhalt. Das EINDEUTIGE bahnte sich weg. Rumpelstilzchen war erkannt. Vergleicht man die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit den 90ern des unsrigen, fallen Ähnlichkeiten auf. Die Naturalisten waren Tabubrecher. Das Tabu lautete: die Gesellschaft zu entlarven. Die heutigen Schreiber, die von Kinderficken, Fotzenaufschneiden, Blut und Erde, Menschenfressen, Leibersezieren usw. tönen und sich als mutige Wahrheitssager gebärden und gewiß auch immer Anstoß erregen, deren Ansatz ist ein kleinerer: Ihnen geht es oft um private Komplexe, nicht um ein zu änderndes Weltbild. Jeder Naturalismus hat etwas hilfloses und verkrampftes. Er ist immer ein Zeichen für den Niedergang einer Gesellschaft.

Die Jahrhundertwende brachte wieder Form in die Kunst. So schreibt Rilke in seiner »5. Duineser Elegie« in vor Erregung aufgelöstem Hexameter: Ach und um diese / Mitte, die Rose des Zuschaun: / blüht und entblättert. Um diesen / Stampfer, den Stempel, den von dem eignen / blühenden Staub getroffnen..uml;nzend mit dünnster / Oberfläche leicht scheinlächelnden Unlust. / Da: der welke, faltige Stemmer, / der alte, der nur noch trommelt, / eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher / zwei Männer enthalten.. Der moralisierende Naturalismus ist einer neuen barocken Lust-Angst gewichen. Vom Barock führt auch eine Linie zu Gottfried Benn. Gryphius' »Kirchhofgedanken« und Benns Arzt-Gedichte sprechen vom Gleichen: die Auflösung des menschliche Leibes. Bei allen grauenvollen (bei Benn mitunter geschmacklosen) Bildern kann man darin auch eine Apotheose der Erotik sehen. Beide Dichter waren Realisten. Benn allerdings, vom &#154;berdruß an der Menschheit geplagt, tendierte zum Kitsch. Der Kitsch des Tabubrechens ist ein Thema auch der heutigen Zeit. Die in gegenwärtiger Literatur in keiner Weise mehr heiter-verschlüsselte Darstellung der Sexualität ekelt und ermüdet mich. Irmtraud Morgner war, wie mir scheint, die letzte, die den Menschen als ganzheitliches und der LIEBE wertes Wesen gesehen und beschrieben hat. Und ich kenne nur einen einzigen wirklich erotischen Film dieser Jahre: »Der Mann der Friseuse«. An keiner Stelle sah man nacktes Fleisch, und doch sah man alles. Das ist das einfache Geheimnis der Kunst. Es geschieht nicht aus Prüderie, sondern aus Langeweile. Wenn das Geheimnis fort ist, fehlt die Form. Formloses nutzt sich ab. Drei Seiten de Sade genügen, um zu wissen, worum es geht. Was heute als Tabu gesucht und gefunden wird, ist schon lange gebrochen. Für die Kunst sind Tabus von Wichtigkeit. Die Offenheit, also das beim-richtigen-Namen-nennen ist für Forschung oder Sozialhygiene von Belang. Wer sich von den Körperschreibern mit Mut brüstet, meint eigentlich seine Geilheit. Darüberhinaus hat er nicht viel zu sagen. Ich meine nicht, daß man nicht ALLES beschreiben kann. Man muß es eben nur können. Der heutigen Kunst mangelt es nicht an Körperdarstellungen, aber es mangelt ihr an Lust und Komik. Sie ist trivial, weil maßlos. Die moralisierende Egomanie der Autoren reduziert nicht nur die Textfiguren, sondern auch die Fantasie des Lesers. Ich wundere mich, anbetrachts des gewachsenen Zynismus (Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch - ), daß ich immer noch, als sei er ganz unschuldig, den Hals des Geliebten küsse uns streichele, anstatt ihn zu würgen.

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