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Eine Stimme vom Mars

Verspäteter Versuch eines Jüngeren, nachträglich doch noch ernsthaft auf das Phänomen »Bocksgesang & Co.« einzugehen

Norbert Niemann

Man hätte es geradezu für Kulturkampf halten können. Aber Gerede und Gekeife, die Scharmützel rund um den »Anschwellenden Bocksgesang« scheinen nun endgültig verebbt zu sein, die Wogen geglättet. Nachdem Botho Strauß mit dem immer wieder gern zitierten »Rechten in der Richte« ein Tabu gebrochen und offenbar mitten ins Herz der 68er-Generation getroffen hatte, konnte im Sommer '95 nach etwas über zwei Jahren »Positions-Krieg«, so scheint es, endlich eine Art Waffenstillstand zwischen den Alt-Linken und ihrem Dissidenten ausgehandelt werden. Es war Seine Majestät der SPIEGEL höchstselbst, der die diplomatischen Grundlagen dafür schuf. Und siehe: »die freie Rede und Gegenrede«, von der Strauß letztes Jahr (SPIEGEL 16/94) noch geglaubt hatte, es gebe sie nicht mehr angesichts der »gespenstischen Entwicklung«, die die Reaktionen auf seinen Gesang genommen hatten - plötzlich war sie doch da. Das heißt, noch besser: Dietz Bering erkannte »Die linke Lehre des Bocks« (29/95) und führte uns (endlich) vor, daß man diesen »allemal treffenden Text«, der genau die »zentralen Probleme« angeht, auch »von links ausbeuten« kann. Das Thema konnte also aus den Listen der kulturellen »Kriegsberichtserstattung« gestrichen werden. Der Diskurs und ein gewisser Konsens innerhalb der kritischen Intelligenz schien auf den ersten Blick wiederhergestellt.

Ist er aber nicht. Jedenfalls nicht jenseits der im weitesten Sinne 68er-Generation. Völlig vergessen nämlich wurde, daß es im Umfeld der Strauß-Debatte geschehen war, daß die These vom Generationsbruch aufkam, daß Ulrich Greiner (ZEIT 38/94) gerade anhand dreier exemplarischer Verrisse von Strauß' Prosaband »Wohnen Dämmern Lügen«, die alle aus den Schreib-Maschinen der von ihm sogenannten »89er« (Radisch, Seibt, Assheuer) stammten, zu zeigen versucht hatte, daß jetzt »die neue Generation die Instrumente der alten Ideologiekritik gegen ihre ehemaligen Anwender« richtet. - Was diese dann in den folgenden Wochen in einer eigens für sie in der ZEIT eingerichteten Rubrik allerdings achselzuckend bestritt, als ginge sie das alles nichts an. Die neue Autorengeneration, hieß es dann in einem Artikel von Iris Radisch zur Frankfurter Buchmesse '94, schlüge einfach »das Buch der Geschichte« zu. Im Gegenteil also: Sie führen '68 weder radikaler noch mit neuem Elan noch auch nur im Ansatz fort - der Bruch ist der Bruch ist der Bruch.

Die »89er - Scheindebatte« ging jedenfalls aus dem »Bocksgesang-Scheinskandal« hervor, ist - unbemerkt von der Öffentlichkeit - aufs engste damit verknüpft. Und auch in bezug auf den Bering-Beitrag scheint unter sogenannten »89ern« wenigstens Einigkeit zu bestehen in der Wut und einer gewissen kopfschüttelnden Belustigung gegenüber dem, was die »alten Herren« in dieser Sache noch immer weiter auffahren zu müssen scheinen. Jörg Lau in der taz (20.7.95) zum Beispiel ist die Medien- und Konsumkritik in der Tradition der Kritischen Theorie, der sowohl Strauß als auch Bering verpflichtet sind, nichts als »intellektuelle Instantnahrung«, »geistiges Junkfood«, eine Reproduktion des »angestaubten Sounds«, mit dem man vom »linken Juste-milieu« sowieso an den Schulen und Universitäten aufgepäppelt wurde, das aber dem Stand der Dinge längst nicht mehr gerecht wird.

Mein Kopfschütteln rührt allerdings mehr noch von daher, daß in meinen Augen tatsächlich der allenthalben attestierte Bruch der Generationen, der Zusammenbruch des Diskurses und damit das von Strauß als Möglichkeit beschworene Vorbeirasen des »kleinen Planeten des Geistes« in den »Bocksgesang« und seiner 68er-internen Debatte von vornherein mit eingeschrieben und mitgestaltet ist. Am »Fall Strauß« scheint mir dieser Bruch geradezu exemplarisch nachweisbar, und die Wut kommt aus dem deutlichen Empfinden, daß dieser Zusammenhang von den ehrenwerten Alt-Intellektuellen noch nicht einmal bemerkt wird.

Oh, nicht nur, daß es für sie - wie der Aufsatz Berings deutlich belegt - eine intellektuelle Welt jenseits von '68 überhaupt nicht zu geben scheint, daß sie nicht die Ohren spitzen, um zu hören, was die Generationen, die quasi von Geburt an in jener Welt zu leben, sich in ihr einzurichten haben, die von ihnen als die bereits Real Existierende Apokalypse beschworen wird, darüber zu berichten haben, sondern nur eine »gähnende Leere« wahrnehmen, daß Bering als einzig ernstzunehmende intellektuelle Konkurrenz zu Strauß der alte Enzensberger erscheinen kann - das an sich wäre noch nicht schlimm. Es sei - um mich für eine Sekunde in den altbackenen, inzwischen für alle 68er typischen Predigerton zu verirren - dem alternden Menschen mehr als vergönnt, an seinen Göttern festzuhalten. Schlimm wird es erst, wenn man sich ihr Bild von den »Jungen«, der »Jugend« ansieht, aus dem sie ihr Horrorszenario der Gegenwart entwickeln. Wo diese beim Linken Bering »aus dem Ruder laufen«, findet Strauß »eine ziemlich abgezehrte Substanz« vor. Wo für Bering der »Konsumzwang« und die bösen Medien die Jugend auf den letzten Lebens-»Sinn« verpflichten, »den vollen Parallelschwung zum Lifestyle zu schaffen«, wittert Strauß eine »gigantische Masse an Indifferenz« und eine »jugendliche Müdigkeit«. Wo Bering das Weltbild der Jüngeren vom Walkman, der Disco (inklusive Gehörschäden) und der Identifikation mit dem »Terminator« ableitet, sagt Strauß: »Es ist der Mars auf Erden, so kalt, so leblos, vieldurchfurcht und ohne Atmosphäre. Was alle angeht, kann nur auf solchem Mars stattfinden.« Was für eine dumpfe Masse von geklonten Idioten wir Jungen doch alle sind! In diesem Bild also stimmen Strauß und Bering überein, fallen links und rechts zusammen. Aber wer von den Post-68ern möchte sich damit schon identifizieren, wer könnte sich darin überhaupt erkennen, wer müßte da nicht unweigerlich mit den Schultern zucken - angesichts derartig vorurteilsbeladener Verflachung? Dieses Bild von der Jugend erinnert mich auf fatale Weise an das der Großeltern, damals, als wir wirklich noch versuchten '68 nachzueifern: »Der Mars auf Erden.« Auch sie waren - ähnlich wie das jetzige Establishment - nicht dazu bereit, sich auf die Lebenswirklichkeit, den Diskurs, den kleinen Planeten des 68er-Geistes einzulassen. Und übrigens war es Jimi Hendrix, der als erster den Spieß der Spießer umgedreht und sich zu dem Monsterbild bekannt hat, das die Alten von seinesgleichen zeichneten, als er zu einem Journalisten gesagt haben soll: »Nett Sie kennenzulernen, ich komme vom Mars.« Wie sollte man erst recht heute an solchen Vorbildern vorbeikommen? Wie sollte man dieser Sorte von Geistesmännern gegenüber sich anders verhalten, als ihnen den dumpfen Idioten zu geben, den sie nicht aufhören können, in einem zu sehen? Was bedeutet es in diesem Kontext, wenn es diese Kinder ihren Eltern ins Gesicht hineinsagen, daß sie einzig und allein Spaß, Technik, Fernsehen und Konsum geil finden? Und was soll man vom Verhältnis dieser Eltern zu ihren Kindern halten, wenn sie sich von dieser ihrer ja ganz realen Realität abwenden wie von einem Stück Dreck?

Auch die 68er (zu denen aufgrund genau dieses gemeinsamen Bildes auch Strauß zu zählen ist, so sehr er sich auch davon abzugrenzen bemüht ist) also betreiben Generationsbruch - und ruft man sich die gleichsam schmollenden Reaktionen der Jüngeren auf die 89er-These in Erinnerung, könnte man die Reihenfolge auch umdrehen: sie haben damit begonnen - abzubrechen. Sie wollen sich nämlich kein Bild machen, was tatsächlich in den jüngeren Generationen Wirklichkeit ist, sie fragen nicht danach, womit sie sich beschäftigen, welche Geschichten sie ihnen dazu zu erzählen hätten - vielleicht, weil es nicht mehr ihre Art des Geschichtenerzählens ist. Denn freilich haben sich im Rahmen der TVisierung der Gesellschaft andere Stützen zur Persönlichkeitsbildung entwickelt. Etwa wenn man einen obendrein äußerst cleveren Sechzehnjährigen mit dem Namen Kafka konfrontiert, und der darauf antwortet: »Was für'n Typ?« Dafür kann er in anderen Wissensbereichen sehr beschlagen sein: etwa was die Legende angeht, wie es zur umgedrehten Baseballmütze als Dress-Code kam; oder zur Zeitgeschichte Afrikas: ich jedenfalls habe es so (und ähnlich) erlebt ..T>

In diesen Zusammenhang noch eine Mars-Geschichte. Ich fragte einen Technofan der ersten Stunde, echtes 68er-Kind mit durchaus glücklicher Kindheit und jenem starken, sensiblen Engagement für die Welt, das sich seine Eltern für ihn gewünscht haben, worin denn seine Faszination bei dieser Art Tanzparties in der ja unbestreitbaren Monotonie der Musik eigentlich bestehe. »Dieses Wummern bietet eine Möglichkeit des befristeten Ausstiegs: Ausstieg aus allem: Verantwortung, Gefühl, Welt.« Er sagte: »Ein Raver geht davon aus, daß die Erde ohnehin rettungslos verloren ist.« Techno sei eine Art Flughafen, ein Ort, wo man sich wegbeamen könne im Puls der Musik auf einen anderen Planeten, weg aus dem eigenen schuldigen Körper. Man müsse den Preis bezahlen und die vom Denken, der Politik und den reichen Völkern verratene Erde preisgeben, um etwa auf dem Mars noch einmal von vorne anfangen zu können. Die Musik übernehme geradezu den Herzschlag, so werde man Teil eines anderen, virtuellen Körpers. Man sei auf Parties mit Gasmaske und Staubsauger in der Hand gegangen, um auszudrücken, daß man nicht mehr dazu gehöre - zu dieser gemeinen Veranstaltung, die Öffentlichkeit genannt werde. »Andererseits ist klar, daß die Bewegung als ganzes sich tatsächlich der Verantwortung für die Welt entzieht, die und auf der man ja trotzdem weiterlebt.« Die jüngste kommerzielle Welle finde er schlecht. Es sei Scheiße, wenn fünfzehnjährige Kids voll bedrogt auf Parties herumhingen, deren Sinn sie nicht einmal mehr verstünden, absolut zu und völlig blöde. Das sei ja gerade das Tolle an Techno gewesen, daß es die totale Droge ohne Droge gewesen sei: ein bewußtes Abschalten und Aussteigen für gewisse Zeit und eine Form von politischem Ausdruck.

Die Fluchtbewegung aus einer Demokratie als »politisch-technischer Selbstüberwachungsverein« (Strauß) respektive das Bewußtsein für eine Verantwortung gegenüber der im »demokratischen Konsumismus« (Behring) erstarrten Gesellschaft, will das sagen, gibt es also auf beiden Seiten. Sogar der verzweifelte Versuch, diese Verhältnisse zu verwandeln bzw. Gegenwelten zu schaffen, ist ihnen gemeinsam. Nur die Wege, wie dieses »Problem« gelöst werden könnte, sind offenbar so sehr verschiedene, daß sie sich als offener Bruch manifestieren konnten. Konsum- und Medienkritik dieser trotz allem und gerade deshalb weiter als 68er zu bündelnden Intellektuellen steht ja ganz in der Tradition der »Dialektik der Aufklärung«. Tatsächlich kann man dort alles - und präziser - finden, was hier zum Thema Kulturindustrie und Medienkapitalismus geboten wird. Strauß setzt den Akzent dabei auf den Aspekt des Gleichmacherischen, den Verlust des Individuellen, Behring mehr auf die auf dieser Entwicklung fußende Bildungsmisere. Horkheimer/Adorno stellten stärker das kapitalistische Moment heraus und druchdrangen so die Problematik tiefer .. es gibt einen viel wesentlicheren Unterschied: Während diese noch die Analyse einer Welt betrieben haben, zu der sie mit gehörten, deren Dynamik auch sie zu erfassen drohte, scheinen jene außerhalb dieser Welt zu stehen, glauben sie ihre Oberdenkerfinger ausstrecken zu können auf die, die nichts mehr als das dumpfe Produkt dieser Dynamik sind: die Jungen. Dahinter steckt offensichtlich eine tiefe Verachtung gegen die Nachkommenden, die diese spüren, und die naturgemäß für jede Möglichkeit von Diskurs über die neu gezogene Altersgrenze hinweg tödlich sein muß.

Darüber hinaus ist die »Dialektik der Aufklärung« schon im Jahr 1944 erschienen - was nicht heißt, daß ihre Analyse überlebt wäre. Nur daß sie durch den Lauf der Zeit inzwischen zum Teil ergänzt, zugespitzt, übertragen gehörte - und das besonders in bezug auf die Lebenswirklichkeit der heute lebenden Menschen. Denn es ist natürlich ein Unterschied, ob man in einer Welt lebt, in der die Erinnerung an und auch noch große Reste von bürgerlicher Kultur lebendig sind, oder ob man mitten hineingeboren ist in die Massenkultur, in das Verschwundensein des Einzelnen, die Unmöglichkeit von Außenseitertum und Subversion und »freier Rede«, ob die unaufhaltsam immer stärker medialisierte Öffentlichkeit zur einzig denk- und erfahrbaren Öffentlichkeit geworden ist oder nicht. Das Selbstbewußtsein der Jüngeren muß ja ein anderes sein, als es die Älteren sich offenkundig überhaupt vorstellen können. Aber wer nicht einmal versucht, diese »inneren« Veränderungen wahrzunehmen, muß zwangsläufig auch in seiner Analyse der Gegenwart in die falsche Richtung tappen und in seinen Lösungsvorschlägen an der Wirklichkeit vorbei argumentieren. Das soll nun an einigen der hervorstechendsten Beispiele aus dem »Bocksgesang« im Ansatz wenigstens rückblickend noch gezeigt werden, nachdem bisher versäumt worden ist, diese analytische Auseinandersetzung mit dem Text wirklich zu betreiben. Bisher nämlich wurden entweder nur seine Postulate verdammt oder seine unrealistischen Gemeinplätze wiedergekäut.

Botho Strauß entwickelt sein Menschenbild aus Lebenszusammenhängen, die nicht unsere, sondern die der Dritten/Vierten Welt sind. Dort, wo Völker tatsächlich noch in einem sinnstiftenden Ganzen der Tradition und Religion leben, kämpfen sie freilich um ihre »Sprache«, um ihr »Sittengesetz«, das von den Großmächten territorial oder technologisch-ökonomisch überrollt zu werden droht. Hierzulande jedoch existieren vielleicht gerade bei der Strauß-Generation noch Spuren von Erinnerung an diese einmal ein Volk verbindenden Komplex der kulturellen Identität. Dies als Fakt angenommen, macht sofort verständlich, warum in Europa im Straußschen Sinn keine Blutopfer en gros, von einer Mehrheit der jüngeren Bevölkerung getragen, stattfinden werden: wovon man nichts mehr kennt, wo kaum mehr Brücken zur Geschichte dieser Tradition vorhanden sind, muß auch nichts verteidigt werden. Nun nimmt Strauß allerdings an, daß das Bedürfnis, die Sehnsucht nach diesen »alten Dingen« in den Menschen gleichsam biologisch festliegt, schlummert und bei Nichtbefriedigung in Form von Haß zu explodieren droht. Darüber kann man streiten. Aber auch gesetzt, man nimmt Strauß' Vorstellung als Wahrheit: Woraus würde diese verbindende Sprache und Sitte von den Menschen entwickelt werden können? Aus dem Alten und Verschwundenen oder aus dem Gegenwärtigen? Aus dem fremden Unbekannten oder Bekannten? Das Fremde aber sind heute nicht mehr die Medien oder »die Fremden« - es ist die Tradition, die Strauß wieder heraufbeschwören will. Aber es wäre doch entschieden die Lebensrealität der Gegenwart, die allmählich wieder zu dieser Sprache zu finden hätte.

Auch der Wirklichkeitsentwurf im »Bocksgesang« scheint mir nicht mehr plausibel zu sein. Laufend spricht Strauß vom grassierenden »Aufklärungshochmut« eines »intellektuellen Protestantismus«, einer »hybriden Zeitgenossenschaft« und der »dumpfen, aufgeklärten Masse«. Davon kann jenseits von '68 überhaupt keine Rede sein. Die kulturellen und sozialen Äußerungen danach sprechen doch die Sprache einer ungeheuren Ohnmacht! Dort, wo sie als »Ventile« einer politischen Willensäußerung verstanden werden müssen, können sie immer auch als Reaktion auf die Ohnmacht gegenüber dem Medienkapitalismus gesehen werden. Und diese Reaktion ist mehrheitlich keine der »Negation«, wie Strauß meint, sondern der Affirmation. Worüber in Teilen der jüngeren Generation ein Bewußtsein vorhanden ist, ist nämlich vielmehr die Tatsache, daß sich die Öffentlichkeit im klassischen Sinn wirklich in der Inszenierung einer gigantischen Talk-Show erschöpft, daß der Diskurs zugunsten von »Infotainment« zerstört ist. Dieses Bewußtsein geht bis zu diesem Punkt mit der Straußschen Analyse sogar zusammen. Nur: hier ist kein Verlust zu beklagen, sondern das ist die Wirklichkeit, mit der die Jüngeren schon die ganze Zeit zu leben haben. Negation würde außerdem des Diskurses bedürfen, um sich entfalten zu können. Da dieser nicht mehr stattfindet und somit jede Verweigerung ins Leere zielt - die große bittere Erfahrung der vergangenen zwanzig Jahre -, bleibt als Möglichkeit nur übrig, die borderline der kulturindustriellen Totalität in der umgekehrten Richtung zu durchbrechen. Eine Fluchtbewegung als radikale Bejahung: nicht aufklärerisch, sondern rauschhaft. Denn eine »mündige« Einflußnahme auf Öffentlichkeit muß dann absurd erscheinen, wenn diese Öffentlichkeit von vornherein für eine Show-Nummer gehalten werden muß.

So ist auch die historische Linie falsch, die Strauß von '68 her zur Gegenwart zieht und die er in einer sich über alle Gruppierungen gleichmacherisch ausdehnenden Konformität des »Vokabulars der Empörung und Bedürfnisse« erkennt. Denn die Jungen bedienen sich dieses Vokabulars auf eine charakteristisch nicht konforme Weise. Sie sprechen dieselbe Sprache anders. Auch sind sie nicht so dumpf, daß man ihnen noch sagen müßte, daß die Medien ein »elektronisches Schaugewerbe« sind, das »keine Köpfe rollen zu lassen« braucht, weil es sie »überflüssig« macht. Sie wissen längst, daß ihre »halbe Existenz« in den Bildschirmen der TV-Geräte hängt.

Nur: was ist es, was sie brauchen, um aus der Falle der Ich-Technologie herauszukommen? Mythen? »Wiederkehr der Götter«? Sind die nicht die ganze Zeit da, diese Götter, und putzmunter? - Gemeint sind natürlich nicht diese an die griechischen-deutschklassischen Götterhimmel angeschlossenen Strauß-, sondern die trivialen Mythen, die uns - was wir ja spätestens seit Flauberts »Madame Bovary« wissen - seit bald 200 Jahren bestimmen, und die in der Geschichte der Moderne nur gelegentlich noch einmal von den alten Göttern überlagert wurden - nur überlagert. Denn auch darüber herrscht doch inzwischen Einigkeit, in welch hohem Maß und recht eigentlich in den Opern des 19.Jahrhunderts oder den kulthaften Inszenierungen des Dritten Reichs die Kulissensterne des Massenkitsches … la Hollywood schon leuchteten. Damals paßten sie da sauber rein, die heidnischen Götter. - Gut, die heute herrschenden Mythen mögen manchen nicht besonders »schön« erscheinen - der Rockstar, die sexuell Befreiten, die Hippies, der Mythos vom Rausch überhaupt, in zeitgemäßem Outfit - aber Mythen sind sie allemal. Still Alive And Well. »Ich-Unmittelbarkeit« ist das dazu passende Schlagwort aus dem »Bocksgesang«. Aber ist diese der »Ruin der Gefühle«, ist sie nicht vielmehr nur der Nährboden für ganz bestimmte Gefühle, so wie alle Mythen von ganz bestimmten Gefühlen getragen werden? Soll die Jugend also ihre Mythen austauschen, ersetzen durch ältere, bessere, richtigere? Dinge, die ihnen nichts mehr sagen und über die sie nur schallend lachen können? Den Engeln Rilkes in »fürchtigster Frömmigkeit« gegenübertreten? - Groteske Vorstellung, das einem Jugendlichen vermitteln zu wollen.

Wieder gesetzt, die anthropologische Notwendigkeit des Mythos für den Menschen wäre wahr: aus welcher Wirklichkeit allein könnte er entwickelt werden? Aus der ja gar nicht mehr nachweisbaren Tiefenerinnerung an ein historisch Abgeschnittenes? Oder aus der Gegenwart? Oder müßte über jenes Historische nicht jedenfalls ein Bezug zu dieser herzustellen sein für den TV-Menschen? Einen solchen Bezug zu einem Mythos aus der Requisitenkammer der bürgerlichen Kultur, der auch heute noch junge Leute ergreifen kann, stellt Strauß tatsächlich her: den zum Außenseiter. Dabei übersieht er allerdings, daß die romantische Figur, die er dabei wahrscheinlich im Auge hat - ein angehender Gelehrter womöglich, der »die magischen Orte der Absonderung« mit seinesgleichen sucht - mit anderen Attributen versehen längst zu einem der mächtigsten Codes der Massenkultur .. man sagen »verkommen« ist? Es ist einfach so. Wer jedenfalls zum Außenseitertum aufruft, ruft die Leute mitten hinein in die TV-Kanäle (man braucht ja nur einen Abend lang zu zappen, um zu sehen: überall Außenseiter). Und Strauß' Traum von einem TV-Publikum, das eines Tages in die Kästen »lächelt unerbittlich und milde zugleich«, weil es »einen anderen Glauben glaubt«, verdrängt die Tatsache wieder, daß die Medien die »halbe Existenz« sind und sich deshalb stets mit ihrer zweiten Hälfte mitverwandeln werden.

Nein, die Medien sind nicht mehr abzuschaffen, intellektuelle Gegenwelten (»wirkliche«, wie Strauß sie meint) haben keinen Platz in dieser Gesellschaft, und diese Jugend ist nicht blöder als jede andere. Und sie weiß das alles. Sie macht sich wenigstens nichts vor: denn wenn schon, dann hat sich die Dialektik von Mythos und Aufklärung längst wieder auf der Seite des Mythos eingependelt. Wenn sich beide nicht ineinander aufgelöst haben, wenn es denn diese Sorte von Dialektik überhaupt noch gibt. Klaus Theweleit jedenfalls hat sie im letzten »Buch der Könige« für »medientechnisch abgeschafft« erklärt. An die Stelle des Prinzips der Gegensätze sei das des Angeschlossen- oder Nichtangeschlossenseins getreten. Aus all diesem wird auch begreifbar, warum jüngeren Intellektuellen die Luhmannsche Systemtheorie näher steht, bzw. warum sie sich die Konsum- und Medientheorie … la Kritische Theorie damit ergänzen und erweitern. Denn für Niklas Luhmann war schon Mitte der Sechziger Jahre klar: »Soziale Systeme bestehen aus erwartungsgesteuerten Handlungen, nicht aus Menschen. Menschen sind für sie stets Umwelt.« Und er hat für unsere hochdiffenzierte Form des Gesellschaftssystems die These entwickelt, daß sie daraufhin angelegt ist, kein Außen mehr zu kennen. »Inklusion der Gesamtbevölkerung« - nichts entgeht diesem System, selbst der Versuch, sich ihm zu entziehen, wird zu einem Teil des Sytems umgewandelt (der Eskapismus als Markenzeichen nicht nur großer Teile der Massen-Popkultur sagt in dieser Richtung alles) - das müßte den rechts und links um Strauß versammelten Intellektuellen zu denken geben.

In seiner jüngsten Veröffentlichung hat Luhmann nun entdeckt, daß diese soziale Einschließung im reichen Teil der Welt eine ungeheure soziale Ausschließung in großen Teilen der Dritten Welt hervorbringt. Läßt sich diese Entdeckung nicht auch treffend auf die Analyse der innereuropäischen Verhältnisse anwenden? Die Inklusion jedes Diskurses in die gigantische Talkshow-Maschinerie der Medien bewirkt dessen Exklusion. Die totale Einbindung der Jugend mittels Pop in den Ökonomiekontext bedingt ihren totalen Ausschluß aus der Gesellschaft - das würde meinen Beobachtungen jedenfalls eher entsprechen als die verbreitete »VerblödungsTheorie.

'68 ist ein Ende und ein Anfang gewesen. Das Ende: ein letzter Ausläufer bürgerlicher Kultur, in der der Literatur eine gewisse Machtstellung zukam - dazu zählt auch Strauß. »Das Sterben der bürgerlichen Kultur durchflackerte das ganze nun zu Ende gehende Jahrhundert. Vieles spricht dafür, daß durch die dritte technologische Revolution in den achtziger Jahren ihre letzten Inseln überflutet (..den.«<2> Der Anfang: die Erschaffung neuer großer Mythen, noch ganz vom Geist einer Tradition der Moderne belebt, die durch ihre starke Medialisierung aber bald von der Ökonomie für sich entdeckt und ihren Zwecken gemäß zu Trivialmythen umgestaltet wurden. - Doch auch die Zerstörung des Diskurses betrieb diese Generation schon früh, hört man Rolf Dieter Brinkmann zu in seinem »Unkontrollierten Nachwort zu meinen Gedichten« <3>: »Ah, hätte ich eine Ideologie, einen Glauben, eine Stilisierung, wie leicht fiele mir, Gedichte zu verkaufen, Sonderangebote, Glauben, Hoffnung, Menschlichkeit, Wörter, Antworten auf die Ratlosigkeit ..ich könnte eine Zukunft verhökern ..o; Er schien als einer der ersten aus der Position der inzwischen normal gewordenen Exklusion sprechen zu müssen, als er in »Rom, Blicke« in allem nur noch ein allumfassendes »Todesuniversum« erkennen zu können meinte und hineintippte in seine Schreibmaschine: »Ich will mehr Gegenwart!« - im Gegensatz zu Strauß, der auf den Schein der glatten glänzenden Oberfläche unserer Bildschirm-Welt hereingefallen zu sein scheint, wenn er sich von einer »Totalherrschaft der Gegenwart« umzingelt sieht. Auch zum Menschenbild unter System- und Medienbedingungen findet man viel früher viel treffenderes - bei einem anderen Konservativen. Gottfried Benn in »Weinhaus Wolf«: »Ihre Natur, mußte ich erwidern, ist sie denn natürlich? Ich kann beweisen, daß sie unnatürlich ist, äußerst sprunghaft, ja, daß sie der Schulfall des Widernatürlichen ist.« »Die menschliche Kreatur vollends wälzt sich doch geradezu in die Unnatur ..Mensch der Zukunft ist reine Abstraktion« Nichts von Blutopfer, alten Dingen, innerem Sittengesetz. Der Mensch ist künstlich, wer heute das Gegenteil behauptet, versucht sinnlos, mindestens 100 Jahre Geschichte auszuradieren. - In welche Richtung wäre unter diesen Umständen also was zu tun? Wenn man wieder mit Benn davon ausgeht, daß kulturelle Blüte und Intensität sich in »Differenzierungsstürmen« äußert, liest sich gerade die verbreitete Anprangerung der Konformität der Massen als Einebnung von Unterschieden. Konnte diese These vor 40 oder 50 Jahren eine kritische Radikalität für sich beanspruchen, ist sie inzwischen selbst zu Konformität erstarrt. Denn sie versperrt den Blick auf die Feinheiten der Differenzen, und nimmt ihnen so die Chance, sich im öffentlichen Raum überhaupt erst entfalten zu können. Eine konstruktive Antwort auf die ja ganz unbestreitbare Normierung der Einzelnen kann daher keinesfalls mehr allein darin bestehen, die Normierheit anzuklagen, sondern muß darum bemüht sein, das reale Potential der Differenzen herauszustellen und diskursiv zu verstärken - kurz, muß versuchen, die Lebensäußerungen dieser »abgezehrten Substanz« Mensch ernst zu nehmen.

Ja, vieles ist in der sogenannten »Geistesgeschichte« und »-gegenwart« schon gedacht worden, woran sich anknüpfen läßt. Es gibt sie, die Bezüge zum Historischen - und das Bedürfnis nach Linien (nicht nach noch mehr Mythen, die einen normierend in Schach halten). Der Bruch, der die Jüngeren zu dumpferen Marionetten als die Älteren erklärt, wird nicht akzeptiert. Nicht das »Buch der Geschichte«, sondern das dünne Heftchen der bürgerlichen Kultur ist zugeknallt.

<2> Hans Dieter Schäfer:»Bürgerliche Kultur und ihr Ende«; in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 87/88 (1992) S.21. <zurueck>

<3> in: Literaturmagazin 5: Das Vergehen von Hören und Sehen. Aspekte der Kulturvernichtung. Hg.v. H.P.Piwitt und P. Rühmkorf, REinbeck 1976, S.237 <zurueck>

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