Krieg
gelesen von Ralf Bönt |
Eine Sammlung von Erzählungen verschiedener Autoren herauszugeben
ergibt Sinn, wenn zum äußeren Merkmal, wie etwa der Narration,
ein Inneres dazukommt: wie etwa Erzählungen vom Krieg. Das haben,
auf sehr unterscheidliche Weise, Annett Gröschner und Carl Schüddekopf
getan. Und die Ideen sind dabei sehr verwandt.
Schüddekopf ist Jahrgang 46 und schreibt in seinem Nachwort in
Erinnerung an die Rückkehr seines Onkels aus russischer Gefangenschaft
1951: In meiner Familie wurde über den Krieg nicht gesprochen. Das Leben
hatte offenbar erst mit der Flucht aus der russischen Zone nach
Westen begonnen. (...) Ich wußte, daß mein Großvater im Ersten
Weltkrieg umgekommen und alle Männer aus meiner Familie im Zweiten
Weltkrieg auch Soldaten gewesen waren. Daher war ich überzeugt,
daß auch ich eines Tages eine Uniform tragen und Soldat sein würde.
Der sprachlose Konsens der Nachkriegsgesellschaft habe ihn aus
Anlaß des 50jährigen Kriegsendes auf die Suche nach Zeugen gehen
lassen. Aus 14 der aufgezeichneten Gespräche sind 20- bis 30seitige
Erzählungen entstanden, die seit dem März vorliegen.
Darin erzählt Bruno Fichte zum Beispiel: Neben mir war mein Freund, Ernst Lenz, ein lieber Kerl, zwei Jahre
jünger als ich. Er träumte davon, einmal ein Mädchen zu haben.
Nichts beschäftigte ihn mehr, er hatte noch nie eines gehabt.
Er lag rechts neben mir, ein ganz kleines Stück weiter vorn, und
wir schossen blind in die Gegend hinein. Ich hörte ein Aufpatschen,
etwas traf mein Gesicht und lief daran hinunter. Nach einiger
Zeit zogen wir uns zurück, und ich zerrte den Freund, von dem
ich nur wußte, daß er getroffen war, zwischen die Panzer. Und
dann sah ich, sein Kopf war gespalten, und was mich getroffen
hatte und auf meinem Gesicht und meiner Uniform klebte, war sein
Gehirn.
In einer inneren Dramaturgie reihen sich die Erzählungen zu einem
zeitlichen und räumlichen Bild des Krieges: Daß er mit gesellschaftlichem
Druck auf den Einzelnen und zwangsläufig folgenden freiwilligen
Meldungen oder andernfalls Rekrutierungen in den 30er Jahren in
Deutschland begann, sich in den 40ern bis Asien, Afrika und zu
Kriegsgefangenenlagern in Texas ausbreitete, daß Tausende Minderjähriger
in den letzten Monaten sinnlos geopfert wurden - Nikolaus Ratjens
überlebt nur weil er im Schützengraben unter seinen Kameraden
liegt, als sie beschossen werden - und daß er für viele eben erst
in den 50ern eine Ende hatte. Und dazu: Nie ein Ende finden kann.
Der äußerste Reichtum dieses Buches liegt in der Darstellung vieler
individueller Details: vielleicht ein wenig überraschend ist es
tatsächlich schlicht Literatur, man darf es wie einen Roman lesen,
der sein Material benennt und seine Technik offenlegt.
Die Quelle des Buches »ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab« von Annett Gröschner ist eine ganz andere: 1946 wurden in Berlin
Prenzlauer Berg Schüler mit dem Niederschreiben ihrer Erlebnisse
während des Einmarsches der Roten Armee in das Viertel beauftragt.
Im Archiv sichtete die Herausgeberin fast 1400 Texte, die in ihrer
Authentizität - und mit außerordentlichem editorischen Aufwand
- 1996 zu einer umfangreichen Dokumentation zusammengestellt wurden.
Eigentlich handelt es sich um die Dokumentation einer Dokumentation:
Was genau die Schulbehörde mit dem Unternehmen damals bezweckte,
ließe sich nicht mehr einwandfrei rekonstruieren. Es werden dem
Leser aber alle Mittel an die Hand gegeben, diese Überlegung so
weit wie möglich selbst anzustellen, und das Buch verwahrt sich
damit gleich bestmöglich gegen etwaige Unterstellungen der eigenen
Arbeit gegenüber.
Wie bei Schüddekopf sind es auch hier zunächst die wirklich versehrenden
Erlebnisse des Krieges, die dem Leser den Gegenstand plastisch
vorführen: Seien es die wiederholten Schilderungen der Bombardierungen
- Die Wände im Luftschutzkeller bewegten sich, als wären sie lebendig -, der Plünderungen, oder die entfesselt eigene Landsleute mordenden
Abteilungen der SS, des Werwolfs und der HJ. Am Tag des Einmarsches
ist die Bevölkerung durch ein angekündigtes Übungsschießen zudem
komplett desinformiert. Weil Gröschner eine Quelle zugänglich
machen möchte und nicht auf eine ökonomische historische Darstellung
zielt, ist das Buch sehr umfangreich geworden.
Beide Bücher ergänzen sich auf eine tragische Weise: Während bei
Schüddekopf die russische Armee oft als neue furchtbare Bedrohung
auftritt und US-Amerikaner tatsächlich den Status der Befreier
einnehmen, kommen entsprechende Szenen in der Dokumentation des
Prenzlauer Bergs so gut wie nicht vor. Der Grund ist offensichtlich,
in einem Fall liegen gar zwei sich vollkommen widersprechende
Aussagen derselben Frau vor: einmal die Wahrheit - so klingt es
- und einmal die geschönte Version für die Besatzung.
Anhand der Erzählung Robert Dohrs vom Häuserkampf in Stalingrad,
erinnert man sich aber daran, daß die USA keinen Krieg auf eigenem
Boden hatten und daß dies etwas bedeutet: Ein Flammenwerfer wirft ungefähr zehn Meter seine Flammen. Ein
Mann rennt vor, reißt die Tür auf, bringt sich in Sicherheit,
und der Mann mit dem Flammenwerfer geht dann ran, und ich brauch
nicht zu sagen, was dann da rauskam.
Bei Gröschner wieder, im Kapitel über den Wiederaufbau im ersten
Jahr, heißt es: Auch der schwarze Markt schädigt am Wiederaufbau von Berlin. Aber
wir alle denken, daß der schwarze Markt bald pleite macht, wenn
es erst alles zu kaufen gibt. In ungefähr 15-20 Jahren ist Berlin
soweit hergestellt daß wir uns alle freuen können, in dieser schönen
sauberen Stadt wohnen zu können.
Es ist sehr schwer, diesen Büchern, die ihrem scheinbar so übermächtigen
Gegenstand gerecht geworden sind, wiederum gerecht zu werden.
Ich will es so versuchen: Nicht nur, daß hier das exakt richtige
Medium zur Erinnerung agiert - man versuche auch nur eine der
zitierten Szenen zu verfilmen. Nach der Lektüre bin ich von meiner
eisern gehegten Gewißheit abgerückt, daß Krieg nicht vorstellbar
sei. Und darüber hinaus leuchtet es beinahe zwanghaft ein, warum
man heute als Berliner Bürger auf dem Pariser Platz steht, am
neuen Hotel Adlon hochsieht, die Berliner Fahne winkt vom Dach
herunter und an der Tür wird man von dem Deutschen nicht mächtigen
US-Amerikanern so freundlich wie bestimmt abgewiesen. Wilhelm
Jordan sagt am Ende seines Beitrags bei Schüddekopf: Die ganze Nachkriegszeit bis hinein in die neunziger Jahre war
für mich der Krieg erledigt. Ich hatte nichts gelernt und wollte
etwas werden. Als Offizier konnte ich nichts werden, als Flieger
konnte ich nichts werden, was sollte ich werden? Ich hatte kein
Zuhause, wußte nicht wohin, hatte nichts anzuziehn, nichts zu
essen, und so hab ich mich nur noch um meinen Beruf und später
um meine Familie und um die Zukunft gekümmert. - In diesem Satz scheint mir die ganze Befindlichkeit unseres
Landes bis heute zu stehen.
Mit derselben Technik wie Schüddekopf arbeitet Gröschner auch
im Prenzlauer Berg, die Interview-Erzählungen über den Krieg findet
man in der Zeitschrift Sklaven. Mit der müden Geschichtsaufbereitung,
wie ich sie aus der Schule kenne, haben diese Erzählungen nichts
zu tun, und ich frage mich, warum ich als Jugendlicher nichts
vergleichbares gelesen habe. Bleibt noch zu hoffen, daß sie bald
als preiswerte Taschenbücher herauskommen, um größte Verbreitung
zu finden. |