Literatur zur Zeit
KONZEPTE

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Odem: On the Run

gelesen von Ralf Bönt

»Eine Jugend in der Graffiti-Szene« heißt das Buch im Untertitel und spätestens wenn man hört, daß die Sache in Berlin spielt, denkt man unweigerlich: Christiane F. der 90er!

Tatsächlich trifft man zunächst auch alle Klischees an, die man als kritisch Kulturinteressierter so erwarten darf: Vernachlässigtes Kind in zu kleinem Zimmer sehnt sich nach Aufregung, während die nur nach dem Eigenheim eifernden Eltern in der Küche streiten, ohne zu bemerken, daß die Familie unterdessen zerbricht. Das Kind schwänzt die Schule, hängt in der Großstadt herum, beginnt zu trinken, kriminell zu werden: Endlich lebt es. Wer wollte sich nicht damit idenitfizieren? Und wer mag nicht Graffitis als letztes Symbol menschlichen Gestaltungswillens im Dschungel der Glasfronten japanischer Star-Architekten mit unreflektiertem Hang zum Faschismus und abertausender Werbeflächen, die uns ihre dreiste Dummheit zuschreien? Das Buch: »Wenn man durch die Straßen geht, mit der S-Bahn fährt oder in die U-Bahn steigt, dann sieht man auf einmal, hey, da war jemand. Da war einer, der hat in alles in seinen Style reingelegt. Der hat was riskiert, um zu zeigen, daß er da war. Der hat seine ganze Power, seine ganze Phantasie in den Style gelegt, und hat ihm Leben eingehaucht. Der bewegt sich, hat Kraft und Macht, Schönheit, Eleganz, Ausdruck. Wenn du das sehen kannst, wenn du weißt, worum es geht, wenn du eine Ahnung hast, was dahinter steckt, dann gehst du durch die Straßen, und siehst das mit ganz anderen Augen, dann erkennst du plötzlich etwas wieder und denkst dir, den kenne ich. Dabei hast du ihn noch nie gesehen. Nur seinen Style. Du siehst das, erkennst das, erkennst die Power, die da drin steckt, und plötzlich bist du selber mitten drin. Man muß das nur sehen wollen.« Und an anderer Stelle: »Wenn ihr sagt, wir sind anders, okay, das könnt ihr haben, dann sind wir halt anders.«

Soweit gefangen, wurde ich vom Buch vollkommen enttäuscht: Was folgt, enthält nicht etwa als Bowie-Konzert das Leben, das ich zu gern als Jugendlicher gegen meines in der Provinz eingetauscht hätte. Vielmehr beginnt Odem mit der Karriere als Sprüher Blatt um Blatt nichts anderes als die Fratze des aggressiven Südländers zu zeigen: »Fame« und »Action machen« werden zu den Codewörtern des Textes. Odem bekommt mühsam Kontakt zu Sprühern, die wegen ihrer Bilder einen höheren Rang einnehmen als er. Jede alberne Verfolgungsjagd mit der Polizei, die die Jungs zumeist laufen läßt, vermehrt den Ruhm. Das Buch ist das Protokoll des Aufstiegs bis zur Spitze dieser auf Autorität, Einschüchterung und Gewalt basierenden Hierarchie, an der es dann auch zu Messerstechereien kommt. Odem ist schließlich in der gesamten deutschsprachigen Graffiti-Presse bekannt und vertritt seine kurzatmige Theorie von der »Stylism Mission.« Zu einer überregionalen Austellung fährt die »Crew« mit geliehenen roten BMW's, springt am Ziel aus den Sitzen, schlägt sich binnen Minuten mit einer Hundertschaft und: »Das war genau, was ich wollte.« Endlich berühmt, wird es ihm langweilig. Odem geht in seine vermeintliche Heimat Kroatien und überlegt, ob er Soldat werden soll.

Er wird es nicht, kehrt nach Berlin zurück, gibt Interviews und jetzt sorgt seine Biografie für Furore. Jürgen Deppe - für seine außerordentliche Fähigkeit bekannt, sich in fremde Stimmen einhören zu können - hat Odems Geschichte in Monaten akribischer Gesprächsarbeit eruiert und zu einem spannenden Buch gemacht. Es stellt einen äußerlich ruhigen Charakter dar, der sich am Vorhandenen orientiert und dem es an einem bestimmten Charisma nicht mangelt. Seine Sprache kommt über eine Korrelationslänge von wenigen Sätzen nicht hinaus. Anhand dieser Überraschungen bin ich versucht, mehr Parallelen zu Ingo Hasselbach zu erkennen, der heute vor der Jüdischen Gemeinde in New York spricht, als zu Christiane F. und verdanke dem Buch die Entzauberung der Illegalität, in der Graffiti leben.

 

Odem: On the Run, aufgeschrieben von Jürgen Deppe, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 317 S., 29,80 DM.

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