Literatur zur Zeit
KONZEPTE

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 Letzter Schrei Gruppe 97

Gespräche mit Günter Grass und Thorsten Becker

Norbert Kron

Noch immer gibt es keinen mächtigeren Mythos für die Initiation junger Schriftsteller in der literarischen Gesellschaft als die Tagungen der Gruppe 47. Das 50-jährige Jubiläum dieser eher versehentlich begründeten »Schreibwerkstatt«, die aus der bloßen Redaktionssitzung einer zu gründenden Literaturzeitschrift hervorging und zur rituellen Mitgliederversammlung des sich selbst gebärenden Literaturbetriebs wurde, ruft nicht nur die Legenden der Debüts von Böll über Bachmann bis Handke wach: es stellt vor allem auch die Frage nach der Möglichkeit, ja Notwendigkeit ihrer Wiederbelebung. Schließlich bietet das neue Deutschland die Gelegenheit, einen - durchaus angebrachten - Dialog unter den zerstreuten jungen Autoren aus Ost und West in Gang zu setzen, der der Gruppe 47 einst selbst ein Anliegen war - ihr aber nicht gelang.

Der gesamten deutschsprachigen Literatur wollte Hans Werner Richter auf den von ihm ins Leben gerufenen Gruppentagungen ein Forum bieten: Doch während österreichische und schweizer Autoren von Anfang an prägender Teil der Treffen waren, blieben die wenigen literarischen Zaungäste aus der neugegründeten DDR - Huchel etwa, Bobrowski natürlich, Kunert oder auch Hermlin - einmalige Randfiguren. Ob von der DDR-Kulturpolitik am Dialog gehindert oder zuweilen auch aus ästhetischer Treue zur sozialistischen Literaturdoktrin nicht interessiert - die Autoren Ostdeutschlands schrieben ihre eigene Literaturgeschichte. Und die Gruppe 47 - anstelle zum angestrebt gesamtdeutschen Literaturzirkel zu werden (wenngleich manche ihrer Mitglieder in den 70er Jahren auf eigene Faust sich zu deutsch-deutschen Werkstattgesprächen in den Osten aufmachten) - geriet zur Urzelle des westdeutschen Kritiker- und Verlagswesens: jede Tagung ein Betriebsausflug der Zunft. Noch heute bestimmen ihre (später von den Medien vergröberten) Strukturen den deutschen Literaturbetrieb. Die Autoren der einstigen DDR, deren Literatur ebenso Geschichte geworden ist wie die der Bonner Bundesrepublik, finden sich paradoxerweise in ihnen wieder, wenn sie an einem vermeintlich neuen »Nullpunkt« der deutschen Literatur in den einst gescheiterten Dialog eintreten wollten.

Thorsten Becker, Autor des »Schönen Deutschland«, macht darin die Unmöglichkeit aus, eine »Gruppe 97« ins Leben zu rufen. Am Rande der ersten großen Jubiläumsveranstaltung, im Literarischen Colloquium Berlin, wo Hans Werner Richter und die Seinen zweimal tagten, gab er Auskunft über seine Absichten zu einer Wiederbelebung der Gruppe 47 wie über seine diesbezügliche Skepsis. In einem Gespräch einige Wochen später in seinem Haus in Behlendorf wehrte Günter Grass dergleichen Einwände leidenschaftlich ab. Grass, der vor der Gruppe mit Gedichten nicht nur erstmals auf sich aufmerksam machte, sondern 1958 für eine Lesung aus der noch unveröffentlichten »Blechtrommel« gar den Preis der Gruppe 47 erhielt, glaubt an den inneren Geist der Gruppentreffen, den er literarisch im »Treffen in Telgte« verewigte. Und er bleibt kein einsamer Rufer in der Wüste des Literaturbetriebs: Zur gleichen Zeit, als die Gespräche stattfanden, versuchte sich ein Kreis junger unbekannter Autoren, unter dem Dach der Literaturwerkstatt Berlin, tatsächlich an der Gründung einer Gruppe 97. Thorsten Becker, in den Augen der Nachfahren möglicherweise ohnehin schon zu etabliert, wird auch dieser letzte Schrei nicht mehr erreichen: Er befindet sich seit Mai auf einer einjährigen Radtour durch China.

Die Lektionen von einst und die neue Literatur

Günter Grass: Es fehlt heute den Autoren etwas, was aus ihrer eigenen Initiative entsteht. Das war das Großartige: Hans Werner Richter war ja nicht ein Verlagsmann und Kritiker - er war Schriftsteller. Es war in erster Linie ein Treffen von Schriftstellern, die sich aus eigener Initiative versammelten. Wir haben heute eine Fülle von Veranstaltungen wie Klagenfurt, wo Autoren mißbraucht werden, indem sie vorgeführt werden - vorgeworfen den Kritikern und der Öffentlichkeit. Ein, wie ich finde, schamloser Vorgang - ich würde daran niemals teilnehmen als Autor. Das war bei der Gruppe 47 anders. Auch die schärfste Kritik wurde durch Bemerkungen entweder während oder nach der Debatte relativiert. Es war ein kollegialer Umgang, den man auch lernen mußte - auch ich habe dort kollegialen Umgang gelernt, ich habe Zuhören gelernt. Ich habe gelernt, meinen Text deutlich und nicht theatralisch vorzutragen. Ich habe gelernt, meine Kritik oder mein Lob in Worte zu fassen - etwas nicht mit Kurzformeln abzufertigen oder hochzupreisen, sondern es auch zu begründen. Es war auch ein Stück Schule der Autoren, die wir durchliefen. Und da viele unter uns - wie ich - keine abgeschlossene Schulbildung, geschweige denn eine Universitätsbildung, hatten, bin ich für diese Lektionen, die mir in der Gruppe 47 dank Hans Werner Richter erteilt wurden, bis heute dankbar.

Aber der »Elektrische Stuhl«, der auch für Klagenfurt Vorbild war, wurde von der Gruppe 47 erfunden.

Er ist von außen so genannt worden - ich habe ihn nie als solchen empfunden. Sicher, es gab von Richter, und wie ich meine zurecht, ein paar Spielregeln: Er hat es den Autoren, die auf dem Stuhl saßen, untersagt, sich gegen Kritik zu verteidigen. Er hat die Autoren geschützt, indem er ihnen das Schweigen gebot. Denn ein Autor, der dort vorne sitzt, kann eigentlich nur, wenn er angegriffen wird, dummes Zeug reden - eine Regel, die sich bewährt hat. Es durfte auch nur über den Text kritisch gesprochen werden - keine literarischen Abhandlungen, sondern nur die Güte des Textes zählte.

Thorsten Becker hat mit dem Gedanken gespielt, eine Gruppe 97 zu gründen - ein Gedanke, den er wieder verworfen hat. Auch mir scheint, daß es unmöglich ist, etwas wie die Gruppe 47 wieder ins Leben zu rufen - weil dieser Kreischarakter, die anfängliche Verschwiegenheit, sich heute nicht mehr verwirklichen läßt. Alles ist schon durch die Strukturen des Liter-aturbetriebs, den die Gruppe 47 mitbegründet hat, geprägt.

Das ist eine Sache der Autoren, wie sie das anfassen. Als wir unsere Treffen in Ostberlin hatten< 9 >, waren wir uns einig: wir lassen keine Presse zu. Wir wußten natürlich, wenn das an die Öffentlichkeit gerät, bekommen wir nach Ostberlin keine Einreise mehr. Und uns war es wichtig, diese Begegnung von Autoren über einen möglichst langen Zeitraum durchzuführen - das ist immerhin vier, fünf Jahre gelungen und ist eine wichtige Erfahrung für beide Seiten gewesen. Wenn man aus der Praxis der Gruppe 47 lernt und die Gefahren von heute mit denen vergleicht, die es natürlich auch um 47 herum, in einer Phase der totalen Isolierung der jungen Literatur, gegeben hat, so sind diese nicht deckungsgleich. Aber vor denen zu kneifen, sehe ich keinen Anlaß. Es liegt dann an den Autoren, Öffentlichkeit nur in dem Maße zuzulassen, wie sie für ein solches Treffen erträglich ist, und daß die Autoren immer die Dinge in der Hand behalten - daß nicht irgendeine Institution, irgendeine Stadt, irgendein Sender sich davorschiebt und sagt: das ist unsere Veranstaltung. Die Autoren müssen es in der eigenen Hand behalten: Dann wird es seine eigene Form finden - auch den Widerständen entsprechend, die es natürlich gibt, wenn so etwas in die Welt gesetzt wird.

Sie halten dergleichen also für die jüngere Literatur für sinnvoll - im neuen deutschen Rahmen.

Ja: Die deutschsprachigen Autoren - es trifft auf Österreich und die Schweiz auch zu - leben nach wie vor in der Zerstreuung. Und dieses Zusammenführen, ein-, zweimal im Jahr, bietet die Möglichkeit einander kennenzulernen, ein kollegiales Verhältnis zueinander zu entwickeln - und nicht das zu tun, was in den Feuilletons dauert geschieht: ein Totsprechen der Literatur. Dem gilt es gegenzuhalten. Erst wenn die Literatur beginnt, sich den Medien anzupassen, fernsehgerecht zu schreiben, ist sie verloren. Solange sie die Möglichkeiten wahrnimmt, die einzig und allein die Literatur bietet, gibt es für sie kein Surrogat. Das ist unsere einzige Stärke, die wir haben, und die gilt es auszuspielen: der Widerspruch durch die erbrachte Leistung, daß Literatur fortgeschrieben wird. Wir leben ja nun gerade nach dem mißglückten Verlauf der Einheit in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche, mit neuen Teilungen, obgleich keine Mauer mehr da ist. Das wird eine neue Literatur fördern. Die Themen sind da - Themen, denen nicht auszuweichen ist. Es ist ein vergleichbares Erlebnis, das meine Generation gehabt hat: Wir waren von Themen umgeben, denen man bei aller Spielfreude, die man sonst aus dem Artistischen heraus hatte, nicht ausweichen konnte. Wir mußten uns dem stellen. Und das würde dann auch Anzeige ndl dazu führen, daß wir weniger Literatur bekommen, die nur den eigenen Bauchnabel besichtigt - davon haben wir zuviel. Zuviele junge Autoren verlieren sich im Autobiographischen schon mit dem ersten Buch, schreiben sich auch leer. Das ist mehr oder weniger geglückt, und damit hört's dann auf. Die Themen, die auf der Straße liegen und die nur aufgegriffen werden müssen, werden dazu führen, daß meiner Prognose nach insbesondere aus den neuen Bundesländern eine neue deutschsprachige Literatur entsteht, die auch Maßstäbe setzt.

Dann müßten also schon etablierte junge Autoren wie Thorsten Becker sich mit anderen zusammenfinden und auch ganz junge, noch nicht etablierte, nicht verlegte Autoren dazu einladen ?

So ist es. Ja.

Und dann könnte es auch, was es ja in der jüngeren Literatur überhaupt nicht gibt, am Rande eines solchen Treffens wieder politische Manifestationen - wie die Resolutionen der Gruppe 47 - geben?

Ja. Vielleicht finden sie sogar neue Formen, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Resolutionen stellen immer eine Schwierigkeit dar, weil die Texte notwendigerweise blass ausfallen, da zuviele Meinungen zusammenkommen. Aber vielleicht findet man entsprechende andere Formen, sich zu Wort zu melden - das kann man nicht voraussagen. Nur - wenn kreative Köpfe aus dem deutschsprachigen Bereich zusammenkommen, und das in einer Zeit, in der gesellschaftlich viel Reibung da ist und Notstände sich verbreiten - denken Sie nur an die Zahl der Arbeitslosen, lauter unbearbeitete Themen -, dann ergibt sich sicher auch der eine oder andere politische Begleitton eines solchen Treffens.

Wäre Berlin dann der ideale Ort hierfür?

Ich würde es nicht auf Berlin verengen - die Autoren sollten auch von den neuen Bundesländern Kenntnis nehmen. Die letzte PEN-Tagung verlief, merkwürdigerweise, vom Ton und vom Austausch her regelrecht erwachsen. Aber wichtig war auch der Ort: Quedlinburg, die Brutstätte deutscher Geschichte. Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg sind voll von solchen Plätzen. Und ich glaube, daß vielen westdeutschen Autoren, die durch ihre Schulzeit ganz westlich geprägt sind, diese Kenntnis fehlt. Eine Abenteuerreise, auch um eigene Bildungs- und Bewußtseinslücken anzufüllen, ist anzuraten. Wenn es zu einer neuen solchen Gruppe kommt, sollte sie sich nicht auf Berlin festlegen.

Die Zelle und das Zyklon

Thorsten Becker: Die Gruppe 47 ist ganz sicher die »Zelle« des Literaturbetriebs. Die Frage ist, wenn man dies annimmt, ob mittlerweile eine »Krebsreaktion« eingetreten ist. Eine Krebsreaktion ist, wie die Genforscher sagen, daß in einem ganz bestimmten Gen die Zeituhr aussetzt und weiter produziert wird - und ich würde zusammenfassend sagen: ja. War die Gruppe 47 die Zelle, die den Krebs des Literaturbetriebs erzeugt hat? Ja. Ich hatte allerdings schon mal einen Impuls zu einer Gruppe 97. Aber da müßte erst das andere entfernt werden aus dem Körper, sozusagen das »Zyklon«.

Es wurde schon davon gesprochen, ob so eine Gruppe 97 heute wieder Sinn machen würde und ob der Bachmann-Preis in Klagenfurt dergleichen nicht in anderer Form weitergeführt hat -

Das ist dann das ausgebrochene Krebsgeschwür, die Klagenfurter Veranstaltung. - Es war sicher richtig, daß man sich nach dem Krieg überlegt hat, wie können wir Katastrophengeschädigten eine neue bessere Literatur pflanzen. Das haben sie auch getan. Die Parallelsituation ist 1989 entstanden, und da war damals meine Position, jetzt bräuchten wir die Gruppe 97: also daß sich Schreibende versammeln um das Thema, und sich fragen, was machen wir daraus. Stattdessen gibt es jetzt so eine larmoyante Feier die 47er betreffend, die aber für uns eher kontraproduktiv ist - also für die Schriftsteller, die versuchen, das neue Deutschland zu schreiben.

Die Gruppe 47 war eine bundesrepublikanische Angelegenheit. Wenn es also Sinn machen würde, so etwas wiederzubeleben - mit Autoren aus beiden Hemisphären - wenn eben deren Dialog wichtig wäre: Warum also macht man es nicht wirkich?

Ich hatte das wirklich fest im Kopf: »Gruppe 97«. Aber es scheitert daran, daß die »Zelle« in ihrem Krebsstadium ist. Daran scheitert eine gewisse Hoffnung. '89 war sicher eine Zäsur wie '45, die ein ähnliches Nachdenken verlangen würde - weil sie schneller gelaufen ist, als das Denken erfolgen konnte. Aber der Literaturbetrieb steht ja schon. Wenn man jetzt eine Gruppe 97 gründen wollte, müßte das eine Zelle sein, die den ganzen Literaturbetrieb wegschiebt. Wie soll das gehen? Heute ist es eigentlich doch so, daß der Betrieb die Autoren frißt - ich bin für viele dafür ein Beispiel. Auch wenn der Autor natürlich letzten Endes autonom bleibt, zumindest diesen Hintergedanken hat - dieses glückliche Zusammentreffen zwischen der historischen Situation und Schriftstellern, die etwas werden wollen, kann man jetzt nicht mehr herstellen. Ich würde es gut finden - aber es ist nicht so.

< 9 > Bereits nach der letzten regulären Tagung der Gruppe 47, (N.K.). < zurück >

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