Literatur zur Zeit
KONZEPTE

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 Erinnern und Schreiben
nach der Apartheid


Ivan Vladislavic

Aus dem Englischen von
Thomas Brückner

1. Seit Milan Kunderas erinnernswertem Buch ist es zum Allgemeinplatz geworden, dass »der Kampf des Menschen gegen die Macht der Kampf des Gedächtnisses gegen das Vergessen« ist. < 12 > Wenn man denn schon mit Allgemeinplätzen leben muß, dann scheint dieser noch von der besseren Sorte zu sein, und wenn ich über Südafrika und seine Literatur in den letzten Jahren nachdenke, dann kommt er mir mitunter in den Sinn.

Verständlicherweise teilt eine große Zahl der südafrikanischen Schriftsteller in dieser Zeit, in der die Geschichte des Landes erinnert, aufgearbeitet und umgeschrieben wird, ein ähnliches Anliegen. Jeremy Cronin, der Antiapartheidkämpfer und Dichter (im Augenblick stellvertretender Generalsekretär der kommunistischen Partei Südafrikas) brachte kürzlich ein kämpferisches Gedicht zu diesem Thema hervor. »Die Kunst ist der Kampf, wachsam zu bleiben«, schrieb er. »Was den Gedächtnisschwund zum wahren Ziel und eigentlichen Gegenstand der Dichtkunst macht.«< 13 > Sein Gedicht benennt einige Spielarten dieses Gedächtnisschwundes, denen wir uns im neuen Südafrika konfrontiert gegenübersehen.

Die Wahrheits- und Versöhnungskommission - die Cronin in seinem Gedicht erwähnt - stellt neben vielen anderen Dingen ein öffentliches Medium des Erinnerns dar. Wir leben in der Hoffnung, dass sich mit ihr die Erinnerung gegen ein beabsichtigtes Vergessen behauptet, jener Kampf aufgenommen wird, von dem Kundera schreibt.

Während viele Südafrikaner das quälende Vorankommen der Kommission voll Trauer und Wut verfolgen, ließ sich die Reaktion einer ganzen Reihe weißer Südafrikaner vorhersagen. Die Anhörungen hatten kaum begonnen, da gingen bei den Zeitungen zahlreiche Briefe ein, die sich über die »Gefühlsduselei« der Aussagenden beschwerten, als sei es beschämend, wenn man unter solchen Umständen seine Gefühle zum Ausdruck brächte, als ob diese Menschen »für die Galerie spielten«. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis die Verfahren einige Leute zu langweilen begannen. Gegen Ende des Jahres 1996 berichtete die Journalistin, die für den Star, die führende Johannesburger Tageszeitung, über die Anhörungen vor der Kommission schrieb, dass die Frage, die ihr am häufigsten über ihre Arbeit gestellt wurde, lautete: »Langweilt Sie das nicht?«

Bei seinem Auftritt vor der Kommission im Mai dieses Jahres schließlich, weigerte sich F. W. de Klerk, eine kollektive Verantwortung seiner Regierung der National Party für die Untaten anzuerkennen, die die Hitsquads und Schläger aus den Reihen des Sicherheitsdienstes in den Jahren der Apartheid verübt hatten. Er sagte, dass es niemals Regierungspolitik gewesen sei, etwas Ungesetzliches zu tun. Als Erzbischof Desmond Tutu und andere Mitglieder der Kommission ihre Enttäuschung über diese Einstellung zum Ausdruck brachten, disqualifizierte de Klerk die Kommission als parteiisch und drohte damit, dass seine Partei die Mitarbeit in der Kommission aufkündigen würde. Das wäre ohne Zweifel im Sinne derjenigen weißen Südafrikaner, die sich selbst jetzt noch, im Angesicht eines Berges von Beweisen, einzusehen weigern, dass all diese Greueltaten in ihrem Namen verübt wurden.

Die Entäußerungen überraschten Unglaubens, mit denen die Offenbarungen der Kommission in einigen Kreisen zur Kenntnis genommen werden - »Das haben wir nicht gewußt!« oder »Wir haben zwar etwas vermutet, aber dass es so schlimm war, das konnten wir uns nicht vorstellen!« oder »Wenn wir das nur gewußt hätten!« - sind nur schwer hinzunehmen. Nur Menschen mit einer wirklich großen Begabung, selektiv wahrzunehmen und zu erinnern, können von den Geschichten, die durch die Anhörungen ans Tageslicht kommen, tatsächlich überrascht sein, sind doch so viele dieser Geschichten bereits früher berichtet worden, wiederholt sogar, in den Medien der Opposition oder anderen Foren der …ffentlichkeit.

Das offensichtliche Widerstreben vieler weißer Südafrikaner, sich über längere Zeit mit der Wahrheitskommission zu beschäftigen, ist Teil des weit größeren Widerstrebens, sich mit der Vergangenheit überhaupt auseinanderzusetzen, und am wenigsten mit der jüngeren Geschichte, das heißt, dem Teil der Vergangenheit, in den wir alle verwickelt sind. Während man einiges davon noch auf eine verständliche Erschöpfung sowie die Furcht vor der Vergangenheit zurückführen kann, zum Teil auch auf den ernsthaften Willen, »in die Zukunft zu schreiten«, »die neue Nation aufzubauen«, so vermute ich doch, dass zum weit größeren Teil damit einfach eine Tradition fauler Selbstbezogenheit und moralischer Feigheit fortgesetzt wird. Wie dem auch sei, wir sind es uns auf jeden Fall selbst schuldig, und - vor allem - all denen, die wegen der Apartheid und ihrer Verbrechen keine Möglichkeit haben, in die Zukunft zu schreiten, dass wir ihr Leid ernst nehmen.
2. Natürlich sind die weißen Südafrikaner nicht die einzigen vergeßlichen Menschen. Hans Magnus Enzensberger hat über das Ausmaß der absichtlichen Verdrängung geschrieben, das sich nach dem zweiten Weltkrieg über Europa breitete. »Nach dem Krieg«, so schreibt er in dem Essay Europa in Trümmern, »versteckten sich die Europäer hinter einer kollektiven Amnesie.«
< 14 >

Enzensberger zitiert die amerikanische Journalistin Martha Gellhorn, die im April 1945 Deutschland besucht:

Keiner ist Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Im Nachbardorf hat es möglicherweise den einen oder anderen Nazi gegeben, und mit ziemlicher Sicherheit ist diese ungefähr zwanzig Kilometer entfernte Stadt eine Hochburg der Nazis gewesen .. sich, wie diese verhaßte Naziregierung, der gegenüber sich niemand loyal verhielt, es fertigbrachte, fünfeinhalb Jahre durchzukommen. Schenkt man ihnen Glauben, dann war in Deutschland nicht ein einziger Mann, keine Frau und kein Kind jemals für den Krieg.

Weiter unten in dem Essay zitiert Enzensberger einen Bericht von Robert Thompson Pell, einem amerikanischen Geheimdienstagenten, über die Haltung deutscher Industrieller nach dem Krieg (er untersuchte die Aktivitäten der Manager der IG Farben). Er sei, so schrieb Pell, »einer Haltung des Trotzes und dem Gefühl« begegnet, »ungerecht behandelt zu werden .. im geringsten von einem Schuldgefühl beeinträchtigt gewesen seien«. Die Haltungen, die er beschreibt - das Selbstmitleid, die Selbstrechtfertigung, das ärgerliche Gefühl der Verletztheit - wird jedem offenbar, der die Ereignisse in Südafrika verfolgt. Ein weiterer Allgemeinplatz: es wird immer schwieriger, jemanden auszumachen, der die Apartheid mitgetragen hat.

Wenn Piet Koornhof, der ehemalige Minister für Kooperation und Entwicklung, der für die Durchführung der gewaltsamen Umsiedlungen verantwortlich war und damit für die Zerstörung der Lebensgrundlage von Millionen Menschen, erklären kann, er habe nie wirklich an die Apartheid geglaubt, wie kann man dann von den einfachen Menschen, die ihn gewählt haben, erwarten, dass sie sich ihrer Verantwortung stellen? Er habe nie wirklich an die Apartheid geglaubt. Er scheint zu glauben, dass sein Verhalten dadurch in besserem Licht erscheint, dabei macht es das nur noch schlimmer.

3. Wie beeinflußt der Wille zu vergessen die literarische Kultur Südafrikas? Glenn Moss, der bis vor kurzem Geschäftsführer des Verlagshauses Ravan war, das in dem Ruf steht, der Apartheid getrotzt zu haben, äußert die Ansicht, dass die Veröffentlichung von Büchern über die Vergangenheit und vor allem über die jüngere Vergangenheit, in jüngster Zeit zu einer entmutigenden Erfahrung geworden ist. Die südafrikanischen Leser kaufen einfach keine Bücher über das Ende der achtziger Jahre. In diesem Lichte wird es dann interessant, dass zwei der meistgelesenen Romane, die seit Beginn der neunziger Jahre in Südafrika veröffentlicht wurden (Mark Behrs The Smell of Apples und Joanne Richards The Innocence of Roast Chicken), Erkundungsreisen in »weiße« Kinderzeit in weit zurückliegender Zeit darstellen.

Der Wille zum Vergessen verbindet sich auf überraschende Weise mit der Debatte, die im Augenblick in den Literaturkreisen Südafrikas im Mittelpunkt steht. Diese Debatte wurde 1990 durch einen Aufsatz von Albie Sachs mit dem Titel Preparing Ourselves for Freedom ausgelöst.< 15 >Ursprünglich auf einem Seminar des African National Congress vorgetragen, beschäftigte sich der Aufsatz mit der Begrenztheit und Unbeweglichkeit eines Großteils der Antiapartheidkultur der späten achtziger Jahre, die von der Vorstellung getragen wurde, dass die Kunst eine »Waffe im Kampf« sei, und forderte ein vielfältigeres, weniger absehbares Kunstschaffen.

Während dieser Aufsatz für die Eröffnung der Debatten wichtig war, ist es gleichzeitig eine Ironie, dass in ihm artikuliert und in gewisser Weise von der führenden politischen Bewegung legitimisiert wurde, was alle Künstler schon seit Jahren eingefordert hatten, und dies trotz der damit verbundenen Gefahr, von den politisch Verantwortlichen als »reaktionär« eingestuft zu werden. Und es lieferte dem südafrikanischen Buchkäufer und Theaterbesucher den Vorwand, unter dem er damit aufhören konnte, die langweilige »Protestkunst« zu unterstützen und sich entschlossenem Eskapismus zu widmen. Die Wirkung bestand darin, dass damit Apartheid als Gegenstand der Kunst als »aus der Mode gekommen« eingestuft wurde. In mehrerer Hinsicht erscheint der Aufruf an die Künstler, in die Zukunft zu schauen, sich nicht mehr umzudrehen, nicht mehr andauernd über die Apartheid, die Vergangenheit, die »Politik«, all die altehrwürdigen Themen zu reden, die die Leser zum Einschlafen langweilen, und stattdessen den Themen und Stilen der Post-Apartheidzeit nachzuforschen, nicht mit der Rückgewinnung der Erinnerung übereinzustimmen, die im öffentlichen Leben darum ringt, sich selbst zu verwirklichen. Oder stellt dieser Aufruf nur einen Bestandteil des allgemeinen Trends zur Preisgabe der Erinnerung dar?

Ich hoffe auf eine südafrikanische Literatur, der es freisteht, die ganze Bandbreite menschlicher Erfahrung zu erforschen, die lebendig aus der Welt schöpft, die sich der Möglichkeiten der Literatur bewußt ist, die zu unterhalten versteht. Doch ich habe meine Zweifel daran, dass eine solche Literatur ins Leben gesetzt werden kann, wenn man das »Politische«, das jetzt mit dem »Vergangenen« gleichgesetzt wird, ausklammert. Dem Drang, die Schriftsteller vom Gegenstand »Macht« abzulenken, stehe ich äußerst mißtrauisch gegenüber. Denn politisches Schreiben im weiteren Sinne bedeutet, sich schreibend mit der Macht auseinanderzusetzen, mit ihrem Gebrauch wie ihrem Mißbrauch. Es ist ein Schreiben der Erinnerung in Kunderas Sinne. Daraus sind einige der besten Werke der südafrikanischen Literatur hervorgegangen. Und selbst im schlimmsten Falle, wenn dieses Schreiben durch geistige Enge gekennzeichnet war, durch Besessenheit, stereotype Denkstrukturen, Kleinlichkeit oder einfach nur Stumpfsinnigkeit, dann hatte die politische Schreibtradition noch immer den Wert, etwas auszusprechen, das Gegebene herauszufordern, das zu erinnern, das die Mächtigen lieber in Vergessenheit gesehen hätten. Aus diesem Grunde nehmen
Schriftsteller und andere Künstler, die den Kopf noch auf den Schultern und das Herz noch am rechten Fleck tragen, keinerlei Generalamnestie hin, auch wenn sie sie aus politischer Sicht als angebracht bewerten. Und mein Wörterbuch sagt mir, dass der Begriff Amnestie tatsächlich mit dem Wort Amnesie verwandt ist und vom griechischen Wort für Vergessen abstammt.
4. Auf der Suche nach dem Gedächtnis im Nachkriegseuropa fand Enzensberger die zuverlässigen Zeugen nicht in den Geschichtsbüchern, den Berichten der Kommissionen, den offiziellen Versionen, sondern in den Arbeiten unabhängiger Journalisten wie Gellhorn. Was die Arbeit dieser außenstehenden Schriftsteller so erleuchtend werden lasse, sei, so schreibt er,

nicht, dass sie für sich in Anspruch nähmen, größere Objektivität zu besitzen, sondern das genaue Gegenteil, dass sie nämlich an ihrem radikal subjektiven Standpunkt festhalten, auch wenn sie - und ganz besonders dann - sich selbst damit ins Unrecht setzen.< 16 >

Im jüngsten Werk der afrikaanssprachigen Dichterin Antjie Krog hat das heutige Südafrika ein herausragendes Beispiel für die Kraft eines derartigen, radikal subjektiven Standpunkts. In ihrem Buch Relaas van 'n moord (Bericht über einen Mord), hat Krog ihre eigene schmerzliche, schwierige und schließlich zugegebene Verwicklung in die schmutzigen Geschäfte der Politik dokumentiert.< 17 >Darüber hinaus hat sie Reportagen von bemerkenswerter Tiefe und emotionaler Kraft - passenderweise über die Wahrheitskommission - geschrieben. Krog ist es gelungen, ihre Eindrücke von der Arbeit der Kommission zu vermitteln, indem sie die Tünche der Sensationshascherei, mit der das Fernsehen das offizielle Ereignis bedeckt, abgespachtelt hat, indem sie den Schleier der Skepsis zerteilt hat, mit dem man selbst alles betrachtet, was von den Medien verbreitet wird, indem sie die steife Formalität der Räume durchbrochen hat, in denen die Mehrzahl der Anhörungen stattfindet, uns ermöglicht hat, alle Vorgänge genau zu sehen und zu hören. Mit dem radikal subjektiven Blick des Dichters geht sie auf menschliche Einzelheiten ein - die Farbe einer gestrickten Kappe, den Ausdruck eines Gesichts, die Bewegung einer Hand - und prägt sie uns unauslöschlich ins Gedächtnis.

5. In ihrem Vorwort zu einem Sonderheft von World Literature Today, das der südafrikanischen Literatur gewidmet ist, stellt Ingrid de Kok Fragen nach der Beziehung zwischen Gedächtnis und Schreiben (wobei sie allerdings einräumt, dass wir möglicherweise noch nicht in der Lage sind, die Antworten auf diese Fragen zu geben):

Vermag sich eine Ikonographie der Erinnerung zu entwickeln, die Vielschichtigkeit und Vielfalt befördert und zwischen den Diskursen des vergangenen Selbst und des heutigen Selbst vermittelt? Oder wird das Projekt Literatur nur wieder ein binäres System hervorbringen, das eine strenge, autorisierte öffentliche Version der Vergangenheit und der Gegenwart sichert?< 18>

Allein sich zu erinnern reicht noch nicht aus, um der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; das entscheidende Moment besteht darin, wie wir uns erinnern, was wir aus den Erinnerungen machen.

Das bereits erwähnte Buch von Richards ist wegen seiner allzu rosigen Darstellung einer Kindheit in der Apartheid und des Verlusts der Unschuld kritisiert worden. Diese Kritik mag zutreffen, und trotzdem besteht die Gefahr, dass sie zu groben Zweifeln am Recht weißer Schriftsteller führen wird, sich mit der Bedeutung ihres Kindseins unter den Bedingungen der Apartheid auseinanderzusetzen. Die Angelegenheit ist vielschichtig. Das unschuldige Kind ist keine Erfindung der Einbildung des weißen Südafrikaners. Und viele weiße Südafrikaner haben sich mit der unbequemen Tatsache auseinanderzusetzen, dass ihre Kindheit auf etwas hinführte, das sich mit dem Begriff »selige Unwissenheit« umschreiben läßt. Ist das eine Obszönität? Wie soll man mit der Tatsache umgehen, dass die eigene Kindheit unter den Bedingungen der Apartheid ganz glücklich war? Unter den Bedingungen des Nationalsozialismus? Die Frage lautet nicht, ob man sich an so etwas erinnern sollte oder nicht, denn auf ganz bestimmte Weise muß alles erinnert werden. Doch der Versuch zu verstehen, wie es einem weißen Kinde (wie mir selbst zum Beispiel) möglich sein konnte, in einem Land so voller Leid und Unglück und Unmenschlichkeit eine glückliche Kindheit zu verleben, könnte uns eine Menge darüber offenbaren, wie Apartheid wirklich funktionierte. Ich wiederhole mich; es geht nicht um die bloße Tatsache, derer wir uns erinnern, sondern um das Wie des Erinnerns. Und das trifft nicht nur auf irgendeine glückliche »weiße« Kindheit zu, sondern gleichermaßen auf jedwede unglückliche »schwarze« Kindheit. Die Debatte darüber, wie weiße Schriftsteller sich ihrer je unterschiedlichen Kindheiten erinnern, vermag ein erhellendes Licht darauf zu werfen, wie schwarze Schriftsteller ihre Kindheiten erinnern.
6. Auch mögen in fiktionalen Werken die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwerer zu entflechten sein, weil sie subtiler oder auch exzentrischer sind als parallele Verbindungen in der Arena des öffentlichen Lebens. Ich habe weiter oben bereits auf die Art und Weise hingewiesen, in der sich die Wahrheitskommission als öffentliches Forum mit der Vergangenheit beschäftigt. Darüber hinaus wird die Erinnerung in Museen und mit Denkmälern öffentlich bewahrt. In Südafrika werden wir eines faszinierenden Prozesses teilhaftig, in dessen Verlauf die Schlachtfelder, die unter der Apartheid beinahe heilige Bedeutung hatten, in Museen und Sehenswürdigkeiten für Touristen verwandelt werden.

Ganz durch Zufall habe ich verfolgt, wie sich in der Presse die Darstellung von Robben Island gewandelt hat, doch verdient dieses Thema systematische Behandlung durch jemanden, der dafür besser geeignet ist als ich. Ich will nur aufschreiben, welche Eindrücke ich dabei gewonnen habe. 1985 - ich arbeitete noch als Lektor für Ravan, reichte der Historiker Jeff Peires einen Artikel über Robben Island für die Zeitschrift Staffrider ein. Obwohl Staffrider eigentlich in erster Linie eine Literaturzeitschrift war, veröffentlichte man doch regelmäßig Beiträge zur allgemeinen Geschichte. Peires Aufsatz beschäftigte sich mit der Inhaftierung einiger Xhosa-Chiefs auf der Insel in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dabei muß man sich ins Gedächtnis rufen, dass in der damaligen Zeit die bloße Erwähnung von Robben Island eine politische Konnotation hatte, aufgrund derer der Herausgeber der Zeitschrift, Chris van Wyk, zu recht Angst vor der Veröffentlichung des Artikels hatte. Das Herausgebergremium, mit dem er sich beriet, machte sich besonders wegen der Fotografien, die zu dem Aufsatz gehörten, Sorgen, weil es damals verboten war, Fotos südafrikanischer Gefängnisse zu drucken. Zu guter Letzt gab der Rechtsanwalt von Ravan den Hinweis, das man die Veröffentlichung damit rechtfertigen könnte, dass die Fotos Teil eines historischen Berichts darstellten, und so wurde der Artikel veröffentlicht, ohne dass sich Schwierigekeiten ergaben.

Offensichtlich stellten die Fotos der verbannten Chiefs (aufgenommen ungefähr 1870) und des Robben Island Leper and Mental Asylum (aufgenommen 1896) keine Bedrohung für die Sicherheit des Staates dar, die Fotografien der damaligen Häftlinge hätte dies aber sehr wohl bedeutet.

Ich erzähle diese selbsterlebte Anekdote, um daran zu erinnern, als wie geheimnisvoll und gefährlich die Geschichte der Insel gehandhabt wurde. Der einleitende Absatz zu Peires Artikel offenbart eine ganze Menge über die Einstellung zur Insel, wie sie in der Mitte der achtziger Jahre vorherrschte:

'Esiqithini' ist ein Begriff aus dem Xhosa und heißt einfach 'auf der Insel'. Damit ist keine bestimmte Insel gemeint, und doch würde es Ihnen schwerfallen, auch nur einen Xhosa zu finden, der nicht wüßte, welche Insel tatsächlich gemeint ist. Selbst in der englischen Sprache verbindet sich für die meisten Südafrikaner mit dem Ausdruck 'die Insel' nur eine einzige Bedeutung. Robben Island, die anheimelnde Heimstatt der Robben, hat sich uns allen unauslöschlich ins Bewußtsein geprägt. Wir kennen sie als Ort der Verbannung, Einsamkeit und des Elends, und gleichzeitig erinnern wir uns der Standhaftigkeit derer, die an ihrer Küste die Abgründe der Verbannung durchlitten haben - und noch immer erleiden. Das Heiligtum der Heiligtümer hat Mtutuzeli Matshob a sie genannt, geheiligt durch das Opfer ihrer Opfer.< 19 >

Wer hätte sich je vorstellen können, das nur ein Jahrzehnt danach der selbe Streifen kalten Wassers, der einst die rechtmäßigen politischen Führer des Landes von ihren Anhängern trennte, zum Schauplatz von Seeschlachten werden würde, die die Fährgesellschaften untereinander wegen der Rechte austragen, die Urlauber zu Kapstadts größter Touristenattraktion zu schiffen?

Im Januar 1997 hatte der Johannesburger Star eine Beilage, die die Geschichte der Insel zusammenfaßte. Unten auf der Reklameseite befand sich eine Reihe von Fotografien. Zum Teil waren es die gleichen Chiefs, die schon im Staffrider-Aufsatz von 1985 veröffentlicht worden waren. In einer Reihe am Kopf der Seite befanden sich zwölf Porträtfotografien, die Hälfte davon in Farbe, die, wie die Überschrift ausführte, »einige der berühmtesten politischen Häftlinge der Insel« darstellten. Ein eingefügter Kasten enthielt nützliche Informationen zur Touristenfähre, eine Servicetelefonnummer und die Ticketpreise.

Im März kündigte der Star an, dass der amerikanische Komiker Bill Cosby auf Einladung von Präsident Mandela Südafrika einen Kurzbesuch abstatten würde. Er würde seine Stegreifnummern, die zum Markenzeichen seiner Komik geworden waren, so fuhr der Bericht ohne jedes Anführungszeichen, also in vollem Ernst, fort, in Sun City und auf Robben Island aufführen. Diese beiden so gegensätzlichen Orte als Schauplätze einer Comedy-Show zu finden, wäre noch vor wenigen Jahren als perverse Ausuferung einer kranken Phantasie gebrandmarkt worden. Am Donnerstag, dem 20. März, trat Bill Cosby auf Robben Island vor einer »ausgewählten Gruppe von Persönlichkeiten aus dem Geschäftsleben und politischen Würdenträgern« auf, unter ihnen Hillary (und Chelsea) Clinton, die Miss Südafrika Peggy-Sue Khumalo und UN-Generalsekretär Kofi Annan.< 20 > Es wurde berichtet, dass viele der Persönlichkeiten aus dem Geschäftsleben eine Viertelmillion Rand für das Privileg gezahlt hatten, mit den politischen Würdenträgern zu speisen, von denen einige mehrere Jahrzehnte auf Robben Island verbracht hatten. Die Gäste übernachteten in den Häuschen, die früher den Gefängniswärtern Zuhause gewesen, nun aber mit Geldern von Sponsoren aus der Geschäftswelt instandgesetzt und renoviert worden waren. Das Essen diente einem guten Zweck, das Geld wird dazu verwendet werden, das Museum der Insel aufzubauen und bedürftige frühere Häftlinge zu unterstützen.

Ein Detail am Rande: sowohl im Bericht der Sunday Times als auch in der Werbebeilage des Star wird Robben Island als das »Alcatraz Südafrikas« bezeichnet. 1985, als Robben Island noch das »Heiligtum der Heiligtümer« war, wäre ein solcher Vergleich undenkbar gewesen. Erst jetzt macht dieser Vergleich Sinn, denn Alcatraz ist das Modell des in eine Touristenattraktion verwandelten früheren Gefängnisses.

Wir müssen uns den Überresten der Vergangenheit nicht nähern, als wären sie heilig. Und es hat keinen Sinn, sich der Nostalgie zu ergeben: wir befinden uns am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und sind weniger als je zuvor von Dingen zu überzeugen, die nichts mit Erfahrung zu tun haben.

Es gibt jedoch eine Art des Erinnerns, die kaum besser ist als das Vergessen. Soll die Vergangenheit nicht ihres eigentlichen, bedeutsamen Gehalts entleert werden, dann bedürfen wir einer anderen Art des Erinnerns, um es genau zu sagen, der aktiven, erfinderischen, kritischen Erinnerung, die den Schriftstellern obliegt. Wir sind nur zu leicht bereit zu vergessen, wie Kundera in seiner berühmten Sentenz ausgeführt hat. Die Erinnerung gehört uns nicht naturgegeben, wir müssen sie uns erkämpfen.

(Mai 1997)

 

< 12 > Milan Kundera: Das Buch vom Lächeln und vom Vergessen, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1990. < zurück >

< 13 >Jeremy Cronin: Even the Dead, in: West Coast Line, Nr. 20, 30/2, Simon Fraser University, Burnaby, British Columbia, 1996, S. 25.< zurück >

< 14 >Hans Magnus Enzensberger: Ebenda.< zurück >

< 15 >in: Spring is Rebellious: Arguments about Cultural Freedom, hgg. Von Karen Press und Ingrid de Kok, Cape Town: Buchu, 1990.< zurück >

< 16 >Enzensberger, a.a.O. < zurück >

< 17 >Antjie Krog: Relaas van 'n moord, Cape Town: Human & Rousseau, 1995.< zurück >

< 18 >Ingrid de Kok: Standing in the Doorway: A Preface, in: World Literature Today, Vol. 70, Nr. 1, South African Literature in Transition, Norman, Okl.: University of Oklahoma, 1996, S. 8. < zurück >

< 19 > Ebenda, S. 30.< zurück >

< 20 >Salmon, trout and tears, Sunday Times, 23. März 1997.< zurück >

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