Literatur zur Zeit
KONZEPTE

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Die Zukunft der »Linken« - nur noch als Mythos?

eine Collage von Michael Wildenhain und Norbert Niemann

1. Norbert Niemann: Die Tatsache, daß Bill Clinton - zur Zeit seines Regierungsantritts in den Medien gern als Wegbereiter für die Machtübernahme der 68er-Generation dargestellt - der erste Demokrat seit Roosevelt ist, der die Wiederwahl ins Präsidentenamt der USA geschafft hat, der »erdrutschartige« Wahlsieg Tony Blairs und der Labour Party in Großbritannien haben die öffentliche Meinung in ihrer Auffassung, zwischen links und rechts gebe es keine nennenswerten Unterschiede mehr, eher bestärkt denn erschüttert. Den in vollem Gange befindlichen, weltweiten gesellschaftlichen und sozialen Umbrüchen im Zuge der dritten technologisch-industriellen 'Revolution' scheinen die traditionell linken Volksparteien nämlich keineswegs mit Konzepten gegensteuern zu wollen oder zu können, welche die in den vergangenen Jahrhunderten erkämpften Rechte auf dem Gebiet des Sozialen und des Demokratischen verteidigen bzw. ihnen die Priorität im politischen Handeln einräumen würden. Vielmehr ist man sich allenthalben einig, daß der Neoliberalismus Thatcherscher Prägung auch unter 'linker' Flagge ohne wenn und aber fortgesetzt werden wird, soll er doch die angeblich einzig mögliche Antwort auf die sogenannten Herausforderungen der Globalisierung sein. Allerdings sieht es so aus, als könnte die neue Jospin-Regierung in Frankreich diesbezüglich eine Alternative darstellen, insofern sie wieder ein Primat der Sozialpolitik einfordert.

Michael Wildenhain: Die Frage ist ja, zunächst mal ganz allgemein, ob's eine Linke noch gibt (geben kann), bzw. ob das Links-rechts-Schema obsolet geworden ist oder eben nicht. Auf der Ebene des alltäglichen Sprachgebrauchs wird die Begrifflichkeit 'links' und 'rechts' jedenfalls nach wie vor angewandt und zwar offensichtlich mit einem gewissen Nutzen: Jeder weiß, wovon die Rede ist, obwohl eine Zeit lang nach 89/90 versucht wurde, zum Beispiel die eher traditionell orientierten Teile der KPdSU als Konservative, man kann schon sagen: zu brandmarken. Aber augenscheinlich ist den, sagen wir mal, bürgerlichen Kräften kein schlagender Ersatz für's sogenannte Links-rechts-Schema eingefallen. Und obgleich es Hilf(losigkeit)sbezeichnungen sind, deutet der Umstand, die Begriffe beizubehalten, darauf hin, daß sich an den Sachverhalten, die damit auf irgendeine Art korrespondieren, so Grundlegendes nicht geändert zu haben scheint.

Zu den Sachverhalten: Zunächst wird von politisch konservativer Seite gern so getan, als hätte es zwar irgendwann mal (früher!) eine Arbeiterklasse gegeben, als sei dies aber inzwischen nicht mehr in relevantem Maße der Fall. Ich vermute, daß es diese Arbeiterklasse als kohärente Erscheinung nie gegeben hat. Es gab sicherlich deutlicher voneinander abgesetzte Milieus (Besitzende vs. Besitzlose) und eine vertikal wesentlich weniger durchlässige Gesellschaft. An der grundlegenden Struktur aber hat sich nicht allzuviel geändert. (Wobei - das ist wichtig - ich damit nicht gesagt haben will, es gäbe keine Arbeiterklasse - genauer gesagt etwas, das mit diesem Begriff doch ausreichend genau bezeichnet ist. Im Gegenteil bin ich der Meinung, daß es sie gab, gibt und geben wird - und daß die Bezeichnung auch als analytische Kategorie taugt und insofern als politischer Begriff taugen kann - solange wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben.)

Immer wenn's um diese etwas eigentümlichen 'Links'-Debatten geht, wird ja gerne auf die sogenannten '68er' hingewiesen: da gab's 'ne (neue) Linke, jetzt - tragisch, tragisch - nicht mehr. In Wirklichkeit war in den 60er, 70er und 80er Jahren - trotz …l- und anderer Krisen - die Gesellschaft nicht nur prosperierend, sondern es wurden auch immer größere Teile der Bevölkerung (gilt für die 80er nur noch partiell) am allgemeinen Wohlstand beteiligt. Genau das muß ja auch das Bestreben jeder sozialdemokratischen Regierung sein - und der Verdienst jeder erfolgreichen. Das heißt, objektiv waren die Bedingungen für das radikale Agieren einer linken politischen Kraft schlecht. Es ist ja - entgegen allgemeiner Mythenbildung - auch nicht so bedeutend viel passiert. Die '68er' haben, was die Arbeiterklasse betraf, doch im wesentlichen nur einen heftigen Verbalradikalismus gepflegt, der darauf gründete, daß eine revolutionäre Umwälzung, nur weil sie denkbar und möglich sei, auch notwendig geschehen müsse. Warum aber sollte ein Arbeiter, der eine schöne Wohnung, ein ordentliches Auto, genügend Geld, zweimal im Jahr Urlaub und einen Kleingarten hat, all das auf's Spiel setzen für ein eher vages politisches Ziel? Kurz - nur weil jemand politisches bzw. revolutionäres Subjekt ist, muß er noch lange nicht kämpfen.

Inzwischen ist die Situation anders: Die Gesellschaft polarisiert sich tatsächlich. Umverteilung findet weg von den Besitzloseren hin zu den Besitzenden statt. Das, was Gewerkschaften und Sozialdemokratie an Anteilen am gesellschaftlichen Wohlstand erobert haben, geht nach und nach verloren. Insofern wären die Bedingungen für eine Linke theoretisch besser denn je. Aber heute, nach dem Auseinanderbrechen des Ostblocks, ist alles, was Sozialismus heißt, nach wie vor desavouiert. Außerdem scheint Sozialimus in einem Land, für sich, nicht möglich zu sein; allenfalls, eventuell, in einer weltwirtschaftlich hochentwickelten Region, die zugleich groß genug ist. Einzelne Länder würden über kurz oder lang ausgeblutet werden bzw. ausbluten, da zudem (altes Problem) in sozialistischen Ländern kein Druck zu Erfindungen, Weiterentwicklung besteht.

Sind denn - blickt man etwa auf Blair oder hierzulande auf die wirtschaftspolitischen Statements eines Schröder - die letzten, noch rudimentär vorhandenen 'materialistischen' Wurzeln der etablierten linken Volksparteien heute nicht getilgt? 'Links sein' - das scheint doch inzwischen bloß noch zu bedeuten, sich irgendwie ein bißchen sozialer zu engagieren als die anderen. Sprich: Ist linkes Bewußtsein zum Mythos geworden?

Genau weiß ich nicht, was Du mit »materialistischen Wurzeln« meinst. Heutzutage sind alle politischen Kräfte materialistisch orientiert; abgesehen von christlichen und muslimischen Fundamentalisten, einigen spirituell-esoterisch ausgerichteten Strömungen (Anthroposophen u.ä.), vielleicht geringe Teile der Neo-Nationalisten. Die eigentliche Frage ist: Wer kriegt welches Stück vom Kuchen? Und da plädiert die Linke - heute wie eh - für eine (tendenziell) gleichmäßigere Verteilung.

Dann laß mich schnell differenzieren, was mit den »materialistischen Wurzeln« gemeint ist (Differenzierung kann ja in der allgemein herrschenden Wolkigkeit der Begriffe nicht schaden): Umgangssprachlich meint 'Materialismus' das Primat des …konomischen. Die liberalen, kapitalismusfreundlichen Kräfte verbinden mit diesem Primat jedoch ein ganz anderes Menschenbild, genauer: einen anderen Freiheitsbegriff als der Materialismus marxistischer Prägung. Der Liberalismus sieht nämlich die Autonomie des Einzelnen als a priori gegeben an: der Mensch habe die Freiheit der Entscheidung, die von den ökonomischen Realitäten im wesentlichen nicht in Frage gestellt werden könne. Für den linken Materialismus läßt sich das Verhältnis Individuum-Gesellschaft kurz mit dem marxistischen Gemeinplatz: »Das Sein bestimmt das Bewußtsein« umreißen; was das für die Freiheit des Einzelnen heißt, liegt auf der Hand.

Diese Differenz nun ist für die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit von entscheidender Bedeutung. Nehmen wir mal ganz theoretisch an, Politik würde immer das Gute für die Bevölkerung wollen, dann gehen die Liberalen davon aus, daß eine blühende Wirtschaft per se Vorteile für alle (die Nation, die Volkswirtschaft, und damit für alle freien Einzelnen) bringt - ein durch den Kalten Krieg gefestigter Glaube an den Katechismus der Konjunktur: Es gibt Durststrecken, aber wenn sich erst die Marktwirtschaft konsolidiert, dann ..en Worten - der Liberalismus verspricht, daß uns die …konomie einen neuen, unendlich viel größeren Kuchen backen wird, wenn sie das größte Stück vom vorhandenen bekommt; und das kleine Stück, das die Leute davon später abkriegen werden, wird größer sein als dieses größte Stück vom früheren. Das ist die liberale Formel für Verteilungsgerechtigkeit.

Eine materialistische Linke dagegen müßte den Kapitalismus immer als etwas begreifen, das an der Gesellschaft prinzipiell uninteressiert ist, nur Klasseninteressen (der Besitzenden natürlich) verfolgt. Kapitalistische …konomie ist doch immer nur soweit an der Gesamtgesellschaft interessiert, als diese positiv zum wirtschaftlichen Funktionieren beiträgt. Unter den Bedingungen der dritten technologischen Revolution, von Rationalisierung und Globalisierung, bedarf die Wirtschaft sowohl der Arbeitenden als auch der Staaten tendenziell immer weniger. Sie braucht nur noch Konsumenten - das dürfte langfristig auch der Haken für die Entwicklung sein. Neoliberale Globalisierung bedeutet aus linker Sicht also, daß die Politik die …konomie von ihren sozialen und regionalen Verpflichtungen suspendiert, kurz - sie schafft sich selbst ab.

Deshalb präzisiert jetzt die Frage: Verrät eine Blair/Schröder-Linke nicht sich selbst, wenn sie ihr Engagement für eine sozialere Verteilung an ein wie oben skizziertes, liberales Modell bindet? Ist der linke Gleichheitsanspruch so nicht in Gefahr, tatsächlich Mythos zu werden? (Man sagt Verteilungsgerechtigkeit und meint Neoliberalismus?) Und weiter: Wie läßt sich der Begriff einer Verteilungsgerechtigkeit vor diesem Hintergrund dann noch retten?

Es gibt im Prinzip momentan nur zwei geschichtsmächtige Kräfte: das Kapital und die im Klassenkampf oder in sozialen Konflikten sich - eventuell nur kurzzeitig - formierenden politischen Subjekte. Letztere sind derzeit taktisch und strategisch in der extremen Defensive. Aber es wird immer eine Aspiration der Nichtbesitzenden auf so etwas wie Verteilungsgerechtigkeit geben. Man kann es auch Sozialneid nennen. Oder puren Egoismus der Einzelnen. Eine Linke ist dazu zunächst nicht notwendig. Sie wäre nur die Kraft, die den Anspruch als politischen formuliert und dafür sorgt, daß sich ein entsprechendes politisches Subjekt formiert. Die Schwierigkeit der dafür zuständigen Gewerkschaften, Sozialdemokraten usw. besteht darin, daß ihnen der Fluchtpunkt abhanden gekommen ist. Was kann an die nicht durchführbare Konstruktion des 'Sozialismus in einem Land' treten? Praktisch besteht außerdem das Problem der »Europäisierung« des Kapitals. Die Defensive der Gewerkschaften etwa wird erst aufbrechen, wenn ein politisches(!) Europa durchgesetzt oder erkämpft ist.

Übrigens: Was meinst Du eigentlich immer mit Mythos? Auch mit dem von Dir verwendeten Begriff kann ich in dem Zusammenhang nichts anfangen. Was bedeutet Mythos? Für ein Bewußtsein kann man sich nix kaufen. Die Frage ist: Wer kämpft? Wie kämpft man, um Erfolg zu haben? Was sind die Ziele? Und wie sieht's mit der Bevölkerung aus? Also: Wollen die Leute kämpfen - oder lieber grillen und in der Hollywoodschaukel abhängen?

Was ich hier damit meine, zielt in genau die Richtung, die Du soeben angedeutet hast: Die 'Linke als Mythos' ist ein Bewußtsein, besser gesagt, ein auf das Niveau einer moralisch durchsäuerten, dumpf gefühlten Zugehörigkeit herabgesunkenes Bewußtsein, irgendwie links zu sein, ohne Handlungskonzept, ohne konkreten Standpunkt, um sich der Gesellschaft gegenüber kritisch, reflexiv zu positionieren. 'Mythos' ist hier tatsächlich als Gegenwort zu Deinem Wort 'Kampf' gebraucht. Linkes Denken als Mythos funktioniert wie ein Seufzer: 'jaja, die Verteilungsungerechtigkeit..über also 'Kampf'. Könntest Du Deine Vorstellung von Kampf, von: »Wie kämpft man, um Erfolg zu haben?« konkretisieren? Nehmen wir als Ziel, was konkret anliegt: neoliberale Globalisierung bekämpfen, insofern sie Rückkehr zu Ausbeutung, Massenarbeitslosigkeit, soziale Verelendung, Zweiklassengesellschaft bedeutet. Hierher gehört auch die Frage an Dich als Autor, welche Rolle der Schriftsteller in diesem 'Kampf' spielen sollte oder könnte.

Die Sache mit dem Kampf ..;e Worte, große Worte ..von folgendem Szenario aus: Das Europa der Kapitale wird sich formieren. Das führt zu sozialen Verwerfungen, die sich jetzt schon ankündigen. Im Ergebnis bedeutet das eine zunehmende Polarisierung, also Zweiklassengesellschaft (bzw. eine Ahnung davon). Die Folge werden lokale, regionale, eventuell sogar nationale Konflikte sein, die wieder die soziale Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und insofern als Klassenkonflikte kenntlich werden, schon so etwas wie Klassenkämpfe/-auseinandersetzungen sind.

Wie formieren sich jetzt auf der Linken die politischen Subjekte? Schwer vorauszusagen. Auf alle Fälle werden die Gewerkschaften alles tun, um zu einer europäischen Organisation zu kommen. Denkbar auch, daß sich außerdem 'kleinere' Strukturen bilden, die aber keine langandauernde Kraft werden entwickeln können. Alles weitere ist Spekulation - oder Hoffnung. Meine Hoffnung besteht darin, daß sich über die Polarisierung und die anschließenden Auseinandersetzungen eine Art neues 'Gegenmilieu' formiert, das eine gewisse Virulenz besitzt und sich somit auch mit einer gewissen Emphase 'links' nennen darf.

Ein Schriftsteller allerdings ist als Schriftsteller in aller Regel nicht in den 'Kampf' involviert. Was kann ein Schriftsteller leisten? Zunächst einiges, da er ja eine inhaltliche Arbeit leistet. Da wenig, weil er eben Bücher schreibt, was klasse klingt und keiner liest. Schließlich wieder: einiges, insofern er einen gewissen Einfluß auf den politischen und gesellschaftlichen Diskurs der Eliten hat. Das klingt nicht sehr spektakulär, aber ein Buch - ebenso wie jedes andere 'Medien'-Produkt - richtet die Art der Rezipienten, zu denken und zu fragen, wenigstens für eine gewisse Zeit zu; in dieser (klingt brutal, oder?) Zurichtung liegt die Chance des Verfassers.

2. Seit Jahren wird bekanntlich allenthalben der berüchtigte 'Verfall der Werte', ein im gnadenlosen Wettbewerb sich ungebremst austobender 'Egoismus' beklagt und angeprangert. Spätestens aber nach den Arbeitslosenzahlen vom Januar dieses Jahres hätte eigentlich dieses allgemeine, diffuse Moralisieren konkret werden müssen. Die soziale Frage ist ein Terrain für politische Ethik, nicht für 'Moral'. Statt der 'Linken' strengte sich jedoch allen voran die extreme Rechte an, die Massenarbeitslosigkeit als Folge der technologischen und strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft zu einem ihrer Themenschwerpunkte zu machen. Eine Vorreiterposition diesbezüglich dürfte die populäre französische »Front National« unter Le Pen einnehmen, die den Arbeitskampf für sich und ihre Pläne für eine »moderne faschistische Organisation« der Gesellschaft entdeckt hat. Bruno Mégret von der FN: »Es besteht ein Bruch zwischen dem Volk und den staatlichen Eliten« (vgl. Jacques Breitenstein in »Le Monde diplomatique«, März 1997). Der enorme Zuwachs an Einfluß und Stimmen, den die FN in Frankreich in den letzten zehn Jahren erfahren hat, dürfte zur Mobilisierung der Linken dort einiges beigetragen haben, wie die letzten Wahlen bewiesen haben.

In der öffentlichen Diskussion in Deutschland dagegen hat das Klima einer linken Orientierungslosigkeit oder Ohnmacht nur dazu geführt, die Auseinandersetzungen um die Frage, was rechts und was links ist, als abgeschlossen zu betrachten. Das neue politische Spektrum kennt nur noch zwei Farben: grau für die extrem breite, nur in Nuancen sich unterscheidende Mitte, die eine grundsätzliche Bejahung der Globalisierung unter dem Vorzeichen einer unkontrollierten (und angeblich unkontrollierbar en) Marktwirtschaft eint, braun für die rassistisch-nationalistische, der Globalisierung und Medialisierung der Gesellschaft feindlich gegenüberstehende Rechte. Dazu paßt, daß die alte, angeblich veraltete Ideologiedebatte auf ein allerdings nur scheinbar neues Gegensatzpaar verlagert worden ist. Dem Pseudo-»Individualismus« einer dem Primat der …konomie verpflichteten Gesellschaft wird der »Kommunitarismus« als Reorganisation von Gemeinschaftswerten und -strukturen entgegengesetzt, der sich als parteiübergreifender Konsens verstanden wissen will. Tatsächlich aber werden so allenfalls traditionell konservative Vorstellungen neu etikettiert, die man auf dem rechten Flügel der CDU/CSU etwa immer schon gefunden hat: Familie, Gemeinde, Vereinsmeierei usw..ilflos moralisierende Kreislauf scheint einfach nur mit anderen Begriffen fortgesetzt zu werden, während der demokratische Handlungsspielraum zusehends schrumpft.

Für uns ist tatsächlich der Blick auf Europa am Interessantesten. Hier handelt die Linke, insbesondere die Gewerkschaft, leider noch nicht im europäischen Rahmen. Das heißt, die Standortfrage der eigenen nationalen Volkswirtschaft wird auch von den jeweiligen Gewerkschaften bisher noch meist im Sinne des eigenen Landes, also national beantwortet. Im Moment gibt es in Europa nur zwei mächtige politische Strömungen: die an einer Einigung nach den Interessen des Kapitals orientierte und die nationalistisch ausgerichtete Gegenbewegung. Die jeweiligen linken Parteien spielen dabei nur noch die Rolle des Korrektivs, sie sind rein defensiv eingestellt. Einen gesellschaftlichen Entwurf haben sie derzeit ja auch nicht vorzuweisen, denn ein Fluchtpunkt, im Sinne einer Zentralperspektive ((Welt-) Sozialismus), scheint für's erste verloren zu sein.

Auf ihrem ureigenen Terrain, der sozialen Frage, das sie über Jahre hinweg meinte, vernachlässigen zu können, ist der Linken mit den rechten Parteien und Bewegungen tatsächlich eine Konkurrenz entstanden, deren Postulat, den Klassengegensatz / die Klassenfrage nationalistisch (statt wie die Linke: internationalistisch) und qua Volksgemeinschaft aufzuheben, in erster Annäherung offenbar plausibel erscheinen kann.

Denn die sogenannten neuen sozialen Bewegungen, die in den vergangenen Jahrzehnten im Windschatten des Systempatts und vor dem Hintergrund einer vermeintlichen Suspendierung der sozialen Frage agieren konnten, sind nicht mehr zeitgemäß. Eine Orientierung hin auf die mit Macht zurückgekehrte, wieder aktuell gewordene - und immer aktueller werdende - soziale Problematik fällt ihnen schwer aufgrund ihrer Tradition und der damit einhergehenden Formierung ihres Bewußtseins. Schließlich muß man auch sehen, daß die Linke in einem taktischen Dilemma steckt: Sie müßte für das Europa des Kapitals, also gegen die Nationalisten Stellung beziehen, würde damit aber de facto einer weiteren Verschärfung der sozialen Situation das Wort reden.

Die Vorstellung einer »neoliberalen Linken«, wie sie die Entwicklung in Großbritannien zum Beispiel nahelegt, ist jedenfalls - darüber sind wir uns einig - absurd. Auf welchen Grundlagen ließe sich linke Kritik und Politik vor dem Hintergrund der Medialisierung der Gesellschaft und der Globalisierung der …konomie denn heute anders weiter bzw. neu denken?

Streng neoliberal kann die Linke nicht werden, sonst ist's keine Linke mehr. Globalisierung - dazu habe ich schon einiges gesagt. Für die Linke ist es schwierig, sich international zu organisieren.

Schwieriger als für das Kapital.

Das war schon immer so. Nur ist es jetzt noch drängender geworden. Mindestens müßten sie's europaweit hinbekommen, sonst ..p>

Medialisierung? Stellt kein Problem dar. Die Realität der meisten hat mit der in den Medien präsentierten wenig zu tun.

Es ist mir völlig nachvollziehbar, daß man inzwischen gegen das Thema 'Medialisierung' , Simulation usw. heftigen Widerwillen haben kann, ist es doch von den vielen postmodernen Schwaflern okkupiert. Ich denke aber doch, daß es relevant ist, nämlich so:

Die Realität der meisten hat wirklich wenig mit der Medienrealität zu tun. Mediales Realitätsbild (Schein) und reale Realität (Sein) berühren sich zunächst einmal so gut wie nicht - obgleich sich andererseits auf der ästhetischen Ebene z.B. die Atomisierung der Gesellschaft in den kämpfenden Actionhelden nicht nur Hollywoods spiegelt. Entscheidend ist also nicht die Differenz der zwei Realitäten, sondern die Tatsache, daß Medien, speziell das TV, offenkundig eine Menge Lebenszeit von jedem Einzelnen abziehen. Der Einzelne ist bereit, täglich viele Stunden als Zuschauer an dieser zweiten Realität zu partizipieren. Es lebt damit, darin: eine Spaltung der Aufmerksamkeit, geradezu eine Doppelexistenz. Der Ausgangspunkt der kritischen Überlegungen ist also nicht primär das Realitätsbild im TV, sondern die verdoppelte Existenz vor dem TV. Von hier aus muß Medienkritik für ein linkes Denken eine Rolle spielen: die gespaltene, die Doppelexistenz macht einen realen Teil der Gesamtexistenz der Individuen aus. Zumal man davon ausgehen muß und alles dafür spricht, daß der Liberalismus diesen Sachverhalt für seine Zwecke nutzt.

Ein Teil des Lebens ist konkret medial gebunden, obendrein jener Teil, der unter dem Stern der Bedürfnisbefriedigung steht. An dieser Schnittstelle vor dem TV läßt sich eben prima die Angebotspalette für Lebensgefühle anbieten und an Waren binden: Bausteine, die - zumindest seit den TV-Generationen - maßgeblich zur Sozialisation verwendet werden. In der atomisierten, medial vernetzten Gesellschaft läuft Sozialisation primär über Massenmedien. Gibt es nicht diese »Bewußtseinsbildung« via Massenmedien (das Sein vor dem Fernseher bestimmt einen großen Teil des Bewußtseins)? Ist da nicht eine ganz - und das scheint mir wichtig - nicht-ideologische, genauer gesagt, den Kopf, jede kritische Instanz prinzipiell umgehende, also geradezu jede kritische Position vernichtende Bewußtseinserzeugung im Gange?

Natürlich zieht das Fernsehen eine Menge Lebenszeit ab. Und in vielfacher Hinsicht ist die Realität, so sie wahrgenommen wird, auch medial gebunden - aber vorhanden ist sie dennoch auch unabhängig vom Medium. Ob sich die Leute allerdings aus dem Fernsehsessel erheben - oder auch nur ein Buch lesen - hängt davon ab, inwieweit sie die damit verbundene Anstrengung für lohnend halten. Der Erfolg politischer, sozialer Auseinandersetzung ist jedenfalls nicht von der Präsenz der Kameras abhängig.

Aber die Stabilisierung jeder einmal etablierten Herrschaft hängt eng mit der Kontrolle der Massenmedien zusammen. »Wer die Medien hat, hat die Macht«, sagte jemand bei den Protestkundgebungen in Belgrad. Die Leute schalteten demonstrativ und kollektiv die Hauptnachrichtensendungen ab. Im Totalitarismus sieht diese Machtausübung via TV natürlich anders aus als im Kapitalismus. Aber auch bei Wahlen, in Sachen Rufmord oder zum Beispiel beim Mauerfall steuern/pushen Massenmedien doch einiges an Volkes Verhalten. Eine Regierung wird sich gegen die Macht einer Koalition aus (Kirch-)Privatsendern und Springerpresse auf längere Frist verdammt schwer tun. Und die Macht in diesen Massenmedien hängt natürlich an der Wirtschaft ..nt>

3. Vor dem Hintergrund der hierzulande herrschende Stimmung mußte ein Artikel wie der von Andrei S. Markovits in der taz vom 9.4.97, mit dem Titel: »Und es gibt sie doch« fast trotzig wirken. Gemeint ist natürlich die Linke. Hatte bereits vor einigen Jahren der italienische Rechtsphilosoph Norberto Bobbio für den ewigen Unterschied zwischen links und rechts »das große Problem der Ungleichheit unter den Menschen und den Völkern dieser Welt unverändert in seiner Schwere und Unerträglichkeit« als den »Polarstern« linken Bewußtseins beschworen (Wagenbach 1994), brachte Markovits nun einen zweiten, erstaunlichen Klärungsansatz ein: Zwar würde Rechte wie Linke Partei ergreifen gegen die globalen Überwucherungen des Authentischen im Rahmen der Totalvermarktungsstrategien unserer Mc World, doch könnten beide Seiten gerade in dem, was sie unter Authentizität verstünden, deutlich unterschieden werden. Während nämlich die Rechte ihre Vorstellung vom Authentischen auf Tradition und Überlieferung gründe und auf diesem Weg die Nation als höchsten Wert rekonstruiere, begreife die Linke Authentizität als Distanz zum und Auflehnung gegen den Markt, der ein Instrument zur Vereinnahmung von Identität sei. Insofern, sagt Markovits, habe sich der Politikbegriff der Linken von einer Politik der Klasse zu einer Politik der Identität hin verschoben. Von daher sei die Hinwendung linker Aufmerksamkeit auf kulturelle Minoritäten zu begreifen, da sich vorrangig dort Widerstand gegen die Nivellierungstendenzen der medienkapitalistischen 'Kulturpraxis' abzeichneten.

Die Frage nach der Identität habe ich noch nie so richtig verstanden. Das ist von einer Kategorie, letztlich Idee her gedacht. Also eben nicht materialistisch. Und insofern auch nicht links. Insgesamt kommt mir eine Frage wie diese, wie ja auch das gesamte postmoderne Denken, quasi-idealistisch vor. Was dieser Markovits in der taz schreibt, scheint mir jedenfalls sehr anglo-amerikanisch zu sein. Dort von einer Linken zu reden, ist - glaube ich - schon per se falsch. Meiner Ansicht nach gibt's da nur eine Art Lobby-Politik für bestimmte Interessengruppen. Und da wird dann alles zusammengemanscht: Hautfarbe, sexuelle Präferenz usw. Hat aber nur miteinander zu tun, wenn man der Meinung ist, Realität sei wie ein Supermarkt strukturiert: alles nebeneinander; und wenn die Regale verrückt werden, dann steht's eben ein bißchen anders. Ich glaube, so betreiben sie auch Philosophie. - Wobei es ja tatsächlich einen gemeinsamen Nenner gibt: Die Rechte, die Gleichberechtigung all dieser Gruppen und Grüppchen sind durch eine liberale, also bürgerliche Gesellschaft per definitionem verbürgt! Nur daß dem, was gelten müßte, zunächst auch Geltung verschafft werden muß.

Das machen auf der politischen Ebene all diese bürgerrechtsbewegten Lobbies. Bei uns waren's zu guten Teilen die '68er' - im Effekt auch nichts anderes als eine Bürgerrechtsbewegung, die die Versprechen der bürgerlichen Revolution - Mühen der Ebene! - dann auch einlöste. Wobei das immer erst in dem Moment gelingt, wo der (jeweils nationale) Kapitalismus es sich einfach nicht mehr leisten kann, bestimmte menschliche Ressourcen - Frauen, Schwarze, Schwule usw. - als Quelle der Wertschöpfung per se zu ignorieren. Also, es macht zum Beispiel keinen Sinn, einen Afroamerikaner Teller spülen zu lassen, wenn er ein brillanter Programmierer wäre. Solange es aber nichts zu programmieren gibt, gibt's keine Notwendigkeit, ihn sich vom Tellerspülen emanzipieren zu lassen.

Auch ich denke, daß es Unsinn ist, so etwas wie eine Politik der Identität für die Linke zu proklamieren. Denn wenn schon Politik der Identität, dann wird sie von der …konomie - und das seit langem - mittels Einflußnahme auf Massenmedien, mittels Werbe-Events, Trendscouts, 'Jugendmacher' usw. betrieben. »Politik der Identität« - die funktioniert doch prinzipiell als eine Depolitisierung der Individuen, wäre umgekehrt eigentlich ein guter Begriff für das, was ich oben mit dem Zugriff des Medienkapitalismus auf das Bewußtsein gemeint habe. Deswegen stellen Randgruppen und ihr Politizitätsverständnis für den Markt ja auch überhaupt kein Problem dar. Sie sind sogar am leichtesten in die Marktstrategien zu assimilieren. Meine sechzehnjährigen Gitarrenschüler nennen das zum Beispiel 'Ghettoromantik' und schauen verächtlich; sie wissen, daß sie mit schicken 'Negern in Ketten' und in Levis-Jeans total verarscht werden, und daß auf diese Weise die Mauern um die Ghettos eher zementiert werden.

Aber ich möchte zum Schluß noch einmal auf die Rolle des Autors, das heißt, vor allem auf die Fragen der Ästhetik zurückkommen. In einem Vortrag über's Theater, den ich von Dir gelesen habe, hast Du diese Parallele zwischen der Monologdominanz im zeitgenössischen Theater und dem inflationären Einzelkämpferhelden im Kino gezogen. Der Kampf des Einzelnen gegen alle und alles als stereotype ästhetische Figur. Ich wollte dazu das Stichwort 'Atomisierung der Gesellschaft' liefern, das - soweit ich das sehe - bis auf Brochs Schlafwandler-Trilogie zurückgeht. Dieser Befund steht ja auch in krassem Gegensatz zu der von Ulrich Beck bis Joschka Fischer behaupteten 'Individualisierung', die ich - zumindest bei Post-68ern - nirgends entdecken kann. Ist die von Dir skizzierte Sorte Einzelkämpfer so etwas wie eine letzte Konsequenz aus den zerfallenden, zerfallenen Handlungsstrukturen der gegenwärtigen Gesellschaft - eine Art letzte, paradoxe Ausformung des Zoon politicon?

Ich denke grundsätzlich vom Stoff, vom Gegenstand her und nicht von der Form - wobei es eine dem Stoff vorgelagerte Instanz gibt: das Medium. Insofern ist Theater a priori ein politisches Medium, das heißt, es hat politische Fragen zu behandeln. Der Roman, ebenso wie der Film, ist ein gesellschaftliches Medium.

Theater ist nur gut, wenn es Reflex auf ein formiertes politisches Subjekt sein kann: Schiller, Brecht, Müller. Wie oben gesagt, fehlt das aber derzeit. Die momentane Situation ist deshalb eher eine Zeit für Romane, Filme (etwa in Großbritannien). Der Autor sucht die für den Stoff adäquate Ästhetik, und die wird vom Stoff diktiert. Dieses Diktat ist allerdings nicht zwingend, das heißt, es zeitigt nicht nur ein Ergebnis - andere, mehrere adäquate Ästhetiken sind denkbar.

Das nun hat zwei Konsequenzen. Zum einen läßt sich eine fundierte ästhetische Diskussion nur im Hinblick auf und abhängig vom Stoff führen, zum anderen gibt es einen Spielraum, der sich möglicherweise dahingehend nutzen läßt, daß die Dinge 'einfach' zu gestalten sind, um sie so - wenigstens in Latenz - einem gewissen Publikum nahezubringen.

Meine ästhetische Position hat sich da durch die völlig gewandelte gesellschaftliche Situation geändert. Ich habe meine ursprüngliche Annahme, auch ein Roman könne primär politisch sein, aufgegeben bzw. sehr eingeschränkt. Für mich war - noch in der »Kalten Haut« - damit der Versuch verbunden, kollektive Protagonisten zu schaffen, was mir - in letzter Konsequenz - nicht gelungen ist. Im Roman gibt es im Gegensatz zum Theater eben keinen Chor, es kann ihn auch kaum geben. Inzwischen versuche ich viel stärker vom Individuum bzw. von 'Charakteren' auszugehen. Aber wie gesagt: es geht immer darum, formale und inhaltliche Aspekte so ineinanderfließen zu lassen, daß Denken und Fragen der Rezipienten auf eine gewisse Zeit zugerichtet werden. Wenn in Büchern Proleten vorkommen, dann gibt es sie auch im Kopf einiger Leser; wenn in den Büchern Politik angesprochen wird ... usw.

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