Die Kunst des Wissens ist vor allem eine Kunst des Unwissens
Seit sich der Mensch vom Glauben emanzipierte, stehen Religion und Wissenschaft in keinem guten Verhältnis. Ein Feiertag für die Wissenschaft würde helfen.
Es ist seltsam, dass den berühmten drei Kränkungen des modernen Menschen immer wieder weitere hinzugefügt werden. Nachdem Kopernikus die Erde aus der Mitte der Welt gerückt, Darwin den Menschen als besseren Affen beschrieben und Freud ihn als Apparat seiner Triebe gesehen hatte, degradierte ihn die Soziologie zum Teil eines Netzwerkes, und Neuropsychologen sprachen ihm den freien Willen ab, weil er nur eine an ein vorprogrammiertes Hirn angeschlossene Maschine sei. Evolutionär orientierte Biologen hielten ihn für die Einwegverpackung egoistischer Gene, die sehr wohl einen Willen hätten, nämlich den, sich zu kopieren. Die beste Ökonomie haben dabei die Viren. Der Dramatiker Heiner Müller nannte den humanen Organismus denn auch eine Virenkneipe.
Seltsam ist diese Mode, weil Erkenntnis kein Rückschlag, sondern ein natürlicher Wachstumsprozess ist. Erkennen ist das Motiv des Erwachsenwerdens, in dessen Verlauf der Mensch ein innigerer Teil der Welt wird. So züchtete er erst Nutzpflanzen und programmiert heute Viren auf die Zerstörung von Tumorzellen. Auch am Anfang der Moderne stand keine Zurücksetzung, sondern ein wirklich grosses Ankommen: Der Mehrwert des heliozentrischen Weltbildes lag in der Systematisierung der Planetenbahnen. Johannes Kepler bezog die Bahnen auf Umläufe um symmetrische Vielecke, die platonischen Körper. Auch, wenn diese Sicht später revidiert wurde, war die Entdeckung ein Beweis für die Möglichkeiten, sich den Himmel besser zu erklären, immerhin denjenigen Ort also, der gleichzeitig für die grösste Sehnsucht wie für die schlimmsten Befürchtungen stand und Furchtsamkeit zur Tugend gemacht hatte.
Die Tiefe des Sternenhimmels
Heute lächelt man über die Zeit, in der die Angst vor einem Kometen das wichtigste Thema war, wie im November 1618, als man im ganzen Heiligen Römischen Reich einen Schweifstern beobachtete und als Ankündigung eines Krieges las. Man nahm die Erscheinungen noch gegenständlich, nicht als abstraktes Schriftzeichen, hinter dem die eigentliche Bedeutung erst zu entschlüsseln gewesen wäre: Was konnte der rasende Körper mit seinem Schweif anderes als ein Angriff sein? Der Komet durchschlug auch die kristallenen Schalen, welche die Planeten hielten. Weltordnung dahin: Rette sich, wer kann! Der Krieg kam, er dauerte dreissig Jahre.
Weite und Tiefe des Sternenhimmels sind jetzt kaum mehr zu sehen, aber wer das Glück einmal hat, der versteht den einstigen Glauben, dass der Himmel die Welt ist und alles in ihm Bedeutung hat. Zu denken, das ganze Spektakel sei zufällig und an ihm nichts zu verstehen, wäre unproduktiv gewesen. Die egozentrische Behauptung, all dies sei eh nur für den Menschen geschaffen worden, kann man mit einem Augenzwinkern als psychologischen Trick gegen die Nichtigkeit unter diesem Himmel entschuldigen.
Die Auffassung, in der Delegation der Verantwortung an himmlische Kräfte liege Resignation, muss man jedenfalls nicht teilen. Man war ja versucht, Gott freundlich zu stimmen. Goethe hat das in der Farbenlehre formuliert, als er über Luther räsoniert: Dessen Schriften enthielten viel mehr Aberglauben als die von Francis Bacon, dem Wegbereiter des Empirismus. Luther mache es sich bequem durch seinen Teufel, mit dem er die menschliche Natur erkläre. Und doch sei er ausserordentlich, denn indem er sich das ihm Widerstrebende recht hässlich, mit Hörnern, Schwanz und Klauen gedacht habe, sei sein heroisches Gemüt nur desto lebhafter aufgeregt gewesen, dem Feindseligen zu begegnen.
Verdammt durch eigene Schuld
Tatsächlich war der Mensch zu Luthers Zeit einer dreifachen Kränkung ausgesetzt. Die Urkränkung bestand darin, nichts über den Himmel zu wissen. Nicht einmal, was an ihm immer wiederkehrt und was bleibt, war bekannt. Zweitens bestand die Kränkung darin, kaum Werkzeug bekommen zu haben, mit dem man etwas in Erfahrung hätte bringen können. Man konnte nicht näher herangehen, um zu sehen, ob anstelle der leuchtenden Himmelskörper nicht vielleicht doch Löcher im Zelt waren, durch die eine endlose Helligkeit drang.
Diese Verweigerung war existenziell angesichts der Stürme, Dürren und Überflutungen, die Missernten, Krankheiten und Chaos nach sich zogen. Die dritte und grösste unter allen Zurücksetzungen für den Einzelnen ist das Verstreichen der Zeit bei begrenztem Aufenthalt. Der Mensch nimmt also diese dreifache Demütigung hin: Er weiss nichts, hat keine Instrumente, um das zu ändern, und obendrein keine Zeit, welche zu bauen. Unwissend zu sein, heisst, nicht in der Welt zu sein. Der moderne Mensch hat nicht weniger geleistet als die Sprengung dieses Teufelskreises.
Den damals noch unerkannten Beginn der modernen Welt begründete nach der Historikerin Barbara Tuchman der englische Theologe und Philosoph John Wyclif. Er übersetzte die Bibel und übertrug schliesslich die erlösende Kraft ganz auf das Individuum. «Denn jeder Mensch», so Wyclif, «der verdammt sein soll, soll durch seine eigene Schuld verdammt sein, und jeder Mensch, der gerettet sein soll, soll durch sein eigenes Verdienst gerettet sein.»
Eine Sonde auf dem Mars
Vielleicht ist das eine Überreaktion, gewiss ist es eine gewaltige Last. Bemerkenswert, dass schon Wyclif den Sakramenten, insbesondere dem Abendmahl, die heilende Wirkung absprach. Es sollte aber noch für viel Ärger sorgen. In der inquisitorischen Denunziation des Kopernikaners Giordano Bruno hiess es 1592, der Mönch habe bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt, es sei ein grosser Blödsinn seitens der Katholiken, zu behaupten, dass Brot sich in Fleisch verwandle.
Auch Kepler lehnte die Ubiquität, die tatsächliche Anwesenheit vom Leib Christi im Abendmahl, um einen sehr hohen Preis ab: Er wurde nicht nur von einer Berufung an die heimische Universität Tübingen ausgeschlossen, sondern auch von der Teilnahme am Abendmahl. Ganz abgesehen von der Zuflucht, die Kepler deshalb beim Wahlkatholiken und Kriegsherrn Wallenstein nehmen musste, hat dieser Vorgang äusserste Tragweite. Er steht in seiner Bedeutung gewiss den Thesen von Luther oder dem Imperativ von Kant nicht nach.
Jetzt leeren sich die Kirchen in atemberaubendem Tempo. Unsere Zeit, heisst es, sei vom endgültigen Erlöschen der Religion gekennzeichnet. Es sei nicht gut, dass kaum noch jemand wisse, welche Bedeutung die Feiertage hätten: Himmelfahrt etwa. Aber haben Menschen nicht eine Sonde auf dem Mars, während eine andere nach einer Reise über vier Jahrzehnte und zwei Dutzend Milliarden Kilometer ihr Sonnensystem verlässt?
Die Menschheit als Ersatz für Gott
In dieser Gleichzeitigkeit liegt ein Verlust der Gegenwart. Sie scheint ein verschütteter Tunnel, über dem sich Vergangenheit und Zukunft ineinandergeschoben und verkeilt haben: Fand schon Giordano Bruno die Lehre vom eingeborenen Gottessohn provinziell und absurd, erleben wir jetzt den Endpunkt einer Wende, die in Deutschland spätestens mit Keplers Widerstand begann. Diese Wende muss eine Emanzipation sein, wenn sich die Lebenserwartung bereits verdreifacht hat.
Doch so kalt kann man nicht rechnen. Wer vor der Gentechnik warnt, kann sich darauf berufen, dass aus der Evolutionstheorie eine tödliche Rassenlehre und aus der Atomphysik zuerst eine Waffe gemacht wurde. Das ist gegenüber einer Zeit, in der man in einem Kometen eine Kriegserklärung erkannte, kein Fortschritt, sondern das Gegenteil. Es bestätigt den Skeptiker in der Furcht, man erkämpfe sich mehr Macht, um diese zu missbrauchen gegen die Welt oder den Menschen. Im «Buch der Unruhe» schreibt Fernando Pessoa, dass die meisten jungen Leute die Menschheit als Ersatz für Gott gewählt hätten. Das ist auch der zentrale Vorwurf an die Moderne, die eine Anmassung sei und ins Verderben führe.
Aber wieso sollte der Mensch das tun wollen? Und was daran sollte modern sein? Wer den Menschen an Gottes Stelle setzt, macht nichts Neues, sondern genau das, was die Kirche immer getan hat: den Gottessohn auf Erden sehen. Ludwig Feuerbach sprach deshalb davon, dass der Mensch Gott nach seinem Bilde geschaffen habe. Der wirklich moderne Mensch aber tut das Gegenteil: Er ersetzt die göttliche Willkür und das Nichtwissen durch Kenntnis des Naturgesetzes samt seinem Geltungsbereich.
Zur nächsten Frage
Das ist der Grund, aus dem Albert Einstein über sein Weltbild schreibt: «Nicht zu Unrecht hat mal jemand gesagt, dass die ernsthaften Forscher in unserer allgemein materialistisch eingestellten Welt die einzig tief religiösen Menschen seien.» Die Akzeptanz des Naturgesetzes ist eine höhere Form der einstigen Gottgefälligkeit, doch der Paradigmenwechsel von der Willkür zum zwingenden Gesetz wurde nicht verinnerlicht. Man hat angeblich allwissende Vertreter von angeblichen Gesetzen Willkür üben lassen, ohne sie zu kontrollieren. Ihre Ergebenen übernahmen nicht die Verantwortung für sich, von der Wyclif gesprochen hatte.
Erkennt man den Paradigmenwechsel dagegen an, dann zieht nicht nur Effizienz in menschliche Bestrebungen ein, die Religion erhält auch eine Aufgabe, die eher machbar ist. Der Wechsel vollzieht sich wie bei der Malerei nach der Erfindung der Fotografie. Religion wird vom Tagesgeschäft erlöst. Sie stellt weiter die letzten Fragen, weshalb sie auch nicht erlöschen kann. Die Wissenschaft stellt dagegen immer die nächste Frage. Ihre Antworten sind vorläufig und konkret, und wo keine mehr verfügbar sind, beginnen Kunst und Religion. Diese Grenze wird ständig neu verhandelt, sie wird verschoben. Aufgelöst kann sie nicht werden.
Deshalb ist der Hohn ungut, den Wissenschafter oft für die Rituale der Kirche und für ihre eigenen Ahnen von der Astrologie übrig haben. Einstein etwa schrieb an den Kunsthistoriker Aby Warburg, dass Kepler «sich wohl geschämt hätte, sein Futter durch ein so plumpes Spiel zu verdienen». Das erzürnte den Kunsthistoriker, denn Kepler war für ihn diejenige Figur der Bipolarität von Astrologie und Astronomie, deren Überwindung ihn zur «weithin lodernden Aufklärungsfackel» machte: ohne Sterndeutung keine Gravitation.
Das Ende der Zentralität
Umgekehrt ist auch die Eifersucht des Pastors auf den Mediziner und den Astronauten überflüssig. Es wäre viel besser, wenn Geistliche und Künstler einerseits und Wissenschafter und Techniker andererseits ihre gemeinsame Überzeugung anerkennten: dass es eine ordnende Instanz in der Welt gibt, mit der zu kommunizieren möglich ist. Der Germanist Manfred Schneider bemerkte anlässlich der Pandemie, dass nach Psalm 53 derjenige ein Narr ist, der Gott leugne, was in nachbiblischer Sprache heisse: «Ich glaube nur, was ich sehe.» Umgekehrt weiss, wer bewusst auf Sicht fährt, dass er ein tausendjähriges Reich nicht gründen kann.
Dass sich keine fruchtbare Koexistenz von Wissen und Glauben, von praktischem Fortschritt und respektablem Umgang mit dem menschlichen Drama etabliert hat, erkennt man an dem fehlenden Bewusstsein für die Leistungen der Moderne. Nicht nur für Aby Warburg gilt die Entdeckung der elliptischen Form der Planetenbahnen durch Kepler als Schritt in die neue Zeit. Er gab die zwingende Vorstellung der Zentralität auf, denn die Ellipse hat anstelle eines Mittelpunktes zwei Brennpunkte.
Das zu akzeptieren, hatte Kepler grosse Mühe. Schliesslich sprach er von der Stampfmühle der Bahnkreise, an die er die Planeten fehlerhaft angebunden habe. Umso mehr könnte man erwarten, dass heute die Ellipse im kulturellen Gedächtnis der Deutschen eine Rolle spielt. Aber das ist nicht so, obwohl das Bundespräsidialamt im Schlosspark Bellevue ein grosser elliptischer Bau ist. Ein Hinweis auf Kepler fehlt. Deutschland, dieses vielleicht modernste aller Länder: eine unbewusste Nation.
Gott ist nicht mehr launisch
Weil er seine Errungenschaften als blosse Technizitäten abtut, steht der moderne Mensch wackelig auf seinem Freiheitsbegriff, der sich der Wahrheit verpflichtet. Dass er fünf Finger an der Hand hat und der Kreisel eine Hypotrochoide beschreiben kann, mag zwar noch eines Gottes Wille sein, doch dieser ist nicht mehr launisch. Auch in sozialen Konflikten oder einer Seuche herrschen Gesetzmässigkeiten, die man immer besser erkennen und nutzen kann.
Selbstredend darf man die Existenz von Gesetzmässigkeiten nicht mit jener von Interessenkonflikten verwechseln, deren Lösung eine politische Aufgabe ist. Dass jeder seine eigene Wahrheit habe, ist aber eine auffallend oft von extremer Seite eingenommene Position. Sie ist falsch. Ein Feiertag für die Wissenschaft würde klarmachen, dass die Wahrheit nicht selbstverständlich gekannt, sondern mühsam errungen wird, dass die nötige Kunst des Wissens vor allem eine Kunst des Unwissens ist und dass nur Wissen wirklich frei macht.