Berliner Stille
Wallstein Verlag, Göttingen 2006
Titelgeschichte im countdown zu 24h Berlin, 18.8.2009
Auf der Suche nach seinem Land wird ein Westdeutscher beim Mauerfall fündig und weint so überrascht wie glücklich. Nun kann er, sagt er, eigentlich gehen. Ein südamerikanischer Priester studiert im römischen Kloster ausgerechnet Kanonisches Recht, bevor er bei der ersten Gelegenheit mit ausgestreckter Zunge und Patschhand über seinen Gast herfällt. Ein tablettenabhängiger Arzt geht in ein Armenviertel in Chile und wird bei einem Überfall fast getötet, bevor seine Jagd auf den Ersatz der gestohlenen Medikamente losgeht: „Sie müßten tot sein,“ sagt der Vertrauensarzt der Botschaft angesichts der täglichen Dosis. Ein Ägypter liebt eine deutsche Frau und läßt sie von seiner Familie im Namen dieser Liebe – oder doch nur der Ehre? – tödlich beleidigen. Ein durch seine erste große Liebe zum Mann werdender Junge möchte der Verehrten sogleich Stärke beweisen und verliert sie dadurch. Eine sehr anlehnungsbedürftige, verletzbare junge Frau findet einen gütigen Gastgeber für die Nacht und beginnt augenblicklich mit ihm zu spielen, bis es ihm zu bunt wird. Einem türkischen Imbißbesitzer ist nicht Kreuzberg geheuer sondern sein trauerkranker Gast: Täglich reden sie über Fußball. Ein in der DDR zu kurz Gekommener reist nach einem halben Leben als Ubahnzugführer nach New York, wo er Hochhäuser als Tunnel empfindet. Sein entscheidungsfreudiger Exschwager erlebt mit einer alten Schulfreundin die Liebe völlig überraschend als erlösenden Akt, zufällig in einem Altenheim.
Heimat versus Freiheit überall: Wie man sie festhält, loswird, gegeneinander eintauscht und (wieder) findet. Immer selbst genau mindestens einen Schritt vom Fatalismus des real existierenden Zeitgeistes entfernt, gehen die Menschen in diesem Buch ihre Wege und ihrer Wege, folgen ihrem Herzen und manchmal ihren Schmerzen, erfühlen sich blind und freihändig. Immer widerstehen sie der billigen Hoffnung am Wegesrand. Ein extrem ruhig daherkommendes und auf den zweiten Blick derart karnevaleskes Buch, daß man geradezu süchtig wird und es gleich erneut zu lesen beginnt.
Magdalene Münter & Victor Gumpelshagenbruch, Bad Schwartau & San Francisco
Rezension Frankfurter Rundschau lesen
Liebe im Charivari
Das Münchner Kneipenbuch
Hg. Björn Kuhligk und Tom Schulz
Berlin Verlag 2009
Nie sagte jemand, er gehe noch ins Charivari. Höchstens fragte einer: Gehen wir noch rüber? Und dann war die Antwort ablehnend. Man ging ja nicht absichtlich hinein, aus freiem Willen oder bewusst.
Wegen der Sperrstunde stand man vor einer anderen Kneipe auf der Strasse, hatte hinter sich den Schlüsselbund gehört, wie er beim Drehen des Schlosses in sich und an die Tür schepperte, was bei einem Gastraum ein besonders polarisierendes Geräusch ist. Man hatte die guten Wünsche des Kneipiers aber im Ohr, und es war entweder warm, so dass man noch reden konnte und kein Ende fand, oder es war kalt, so dass man fror, bevor das laufende Gespräch zu einem Ende gekommen war. Einer erbarmte sich vielleicht und sagte wie absichtslos: Na los, eins noch.
Essen
Titelkampf, Anthologie, Hg. Ralf Bönt, Albert Ostermaier, Mortz Rinke. Suhrkamp 2008
Antologi Spela Bollen, Jag Är Fri!,
Hg. Fredrik Ekelund und Magnus Sjöholm, Malmö 2007,
www.forfattarlandslaget.se
Berliner Stille, Erzählungen, Wallstein Verlag, 2006
Doppelpass, zum Sieg der DDR über die BRD in der WM 74,
herausgegeben von Jan Brandt, kookbooks, München 2004
Wenn du herein kommst, ist der Fernseher über deinem Kopf, und du kommst direkt von der Kreuzung, wo es passiert ist: Eine Hauptstraße, Ecke Seitenstraße, mit Ampel, und der Lastwagen soll grün gehabt haben, aber das konnte nie geklärt werden. Eine Ecke wie die gibt es Tausende in einer Großstadt, oder es gäbe Tausende und wieviel Tausend eigentlich, wäre nicht der Eingang zum Imbiß um fünfundvierzig Grad gegen beide Straßen gedreht, aber vielleicht gibt es auch solch abgeschrägte Hausecken an Straßenecken Tausende oder Zigtausende. Du kommst also direkt von der Kreuzung, gehst unter dem Fernseher durch und gleich verdrehst du dir den Hals, weil deine Augen natürlich Cem suchen, der irgendwo hinter dem längs durch den ganzen Raum verlaufenden Tresen sein muß, aber die laufenden Bilder behaupten sich auch ungesehen, durch unterlegten Ton, und du mußt erst mal hinkucken: heute Fußball. Heute guter, türkischer Fußball, du starrst eine Minute: athletisch ist er und technisch, gut.
Weiter hinten an der Theke Betrieb. Zigarettenqualm, laute Männer, arme Kerle. Mittendrin ist auch Cem mit dem unvermeidlichen Lappen in der Hand, und seine gute Laune ist da, wo bei anderen die politische Überzeugung wohnt: „Hallo Nachbar, komm gleich.“ Mit einem Handzeichen bedeutest du ihm: keine Panik.
Cem: „Aber setz dich, Herr Professor. Oder zum Gehen?“
Du verneinst, setzt dich, legst die Zeitung auf den Tisch, schlägst sie auf, drehst dich aber zum jetzt schräg halb hinter dir plärrenden Fernseher. Ein aufgezeichnetes Spiel, ohne Angabe der abgelaufenen Spielzeit, als ob in einem Spiel nicht alles davon abhinge, dass es genau neunzig Minuten dauerte und damit ganz anders als das Leben sei.
„Heute lecker Dönerteller, mein Freund?“
Das breite Gesicht von Cem, falls er so heißt wie der Imbiß, ist ein Anker in deinem Tag. Mit schnellen, so entschlossenen wie leichten Bewegungen putzt er sich von hinten nach vorne, rechts den Lappen, mit der linken Aschenbecher, Ketchupflaschen, Teegläser anhebend und wieder hinstellend. „Heute sehr lecker Dönerteller.“ Cem wartet auf eine Antwort.
Du drehst dich vom Fernseher weg zu ihm hin: „Wie immer doch.“
„Aber heute ganz besonders lecker für ganz besonderes Nachbar.“
Du nickst, blätterst in der Zeitung, im Wirtschaftsteil ehrlich gesagt lustlos.
Ein Ort, eine Zeit, ein Bericht.
Transparencies, Katalog zur Ausstellung der Arbeiten von Nicola Stäglich in der Galerie Wittenbrink, bruno dorn verlag, Berlin 2005
2. Januar. Silvester in Berlin auf dem Dach gefeiert, wie immer fröhliches Frösteln zwischen Fremden. Neujahr bin ich los, nachmittags, 16 Uhr. Hotel ausgerechnet in Wörgl. Heute dann Mittagessen in Brixen, noch nie war ich da im Winter. Später aus den Alpen und der Jahreszeit raus, an Florenz vorbei wie an einem anderen Leben, schließlich an Rom vorbei, dann das beschriebene Schild, Neapel 180 km. Kurz drauf die beschriebene Abfahrt in ein neues Leben. Der Ort liegt auf 650 Metern, und über ihm thront die Casa Baldi, auf einem zweiten Hügel liegt eine Burgruine. Niemand war da, ich musste zurück zum Busbahnhof, hinten um dem Hügel herum und durch einen Tunnel, telefonieren. Keine Zelle funktionierte, auch 2004 ist Italien sich noch treu.
Namenlose
Berliner Stille, Wallstein Verlag, Göttingen, 2006
Das Magazin, Heft 9, Berlin 2003
Die Akte Ex, hg. von Leander Scholz und Michael Zöllner, Rowohlt Verlag, Reinbek 2000
0190 Geschichten aus der sexualisierten Welt. Hundspost 10. Zeitung für die literarische Gegenwart.
Hamburg, Hundspost, 1998
Der Alltag 69, Liebe & Hass, hg. von Michael Rutschky, Elefanten Press, Berlin 1996
An einem Wintersonntag kurz vor zwei Uhr nachts sprach sie ihn auf der Straße vor seiner Wohnung an. Er hatte wie immer seine zwei Biere getrunken und auf die Sperrstunde gewartet, die auch im ‚Türkenhof’ Routine, wenn nicht ein Ritual war: An einem der Tische, die um die übergroße, dreischenklige Theke herum Platz hatten, traf er sich täglich zwischen Mitternacht und halb eins mit den Freunden, redete über Politik und manchmal, wie an dem Sonntag mit Charlie, auch über Frauen. Als Männerbierrunde blieben sie sitzen, bis gegen halb zwei alle anderen Stühle schon auf den Tischen standen, die Kasse den Tag zusammengerattert hatte und die Bedienungen ihren aggressiven Ton anschlugen, der ihnen so wenig ausmachte wie uns vieren oder fünfen am Tisch.
Vor der Tür verabschiedeten sie sich gewöhnlich mit flüchtigen Gesten. Wohl wegen der Kälte, die ihnen an dem Sonntag auf den Stufen entgegenschlug, waren Joe und die anderen schon grußlos in ihre Richtungen auseinander gegangen, bevor er noch etwas hätte sagen können. Mit dem R4, dessen Motorgeräusch ihn an einen Campingkocher erinnerte, fuhr er durch Schwabing, über die Isar, dann den kleinen Anstieg am Engelsdenkmal hoch, von dem er nicht wußte, wofür es stand. Er durchquerte das schlafende Haidhausen, kreuzte den Leuchtenbergring und kam hinterm Ostbahnhof raus. Statt der hübsch sanierten Altbauten standen hier typische Wohnblocks der Siebziger, und niemand kam jemals zufällig in diese Gegend. Er hatte die Entscheidung, die ihn in einer Kette von Folgen hierher gebracht hatte, selbst und ohne jeden Zwang gefällt, er wußte daß es keinen Grund zum Bedauern gab, keinen. Die Nüchternheit des Viertels paßte dazu, und ihm gefiel das während der anderthalb Jahre, die er hier wohnte. Er liebte,meinte er, die Ecke und seine kleine, simple Wohnung mit Südbalkon. Oft scherte er sich tagsüber um niemanden.
Jetzt parkte er den R4 ein, stieg aus. Die Kälte brannte auf seinem Gesicht und in der Brust. Mit einem Blick zu seinem Balkon im ersten Stock hinauf ging er über die Straße und um die Hausecke und sortierte gerade den Schlüsselbund, als sie ihn in seinem Rücken ansprach: „Kann man hier noch was zu trinken kriegen irgendwo?“ Ihre Stimme war ungewöhnlich dringend und kontrolliert und vollkommen persönlich an ihn gerichtet.
Dialogisch Manhattan
Signale aus der Bleecker Street, hg. von Bernd Hüppauf Wallstein Verlag, Göttingen 2003
Literarische Welt, Berlin 1999
New York ist für Täter gemacht, nicht für Opfer: Das hatte ihm eine Freundin in Berlin zwei Wochen bevor er abflog gesagt. Sie konnte ihr Gegenüber mit einem Auge ruhig ansehen und gleichzeitig das andere um alle möglichen Achsen drehen, um damit den ganzen Raum zu kontrollieren. So sah es zumindestens aus und jedenfalls hat sie das gemacht, wenn sie blau war und es wurde ihm nur vom Zusehen schon schwindlig.
Er war sicher, sie würde niemals Opfer von irgendwas oder irgendwem sein und mit der Bemerkung hatte sie ihm vermutlich den letzten Kick gegeben, endlich einmal den Flug zu buchen. Lange, sehr lange schon schob er das vor sich her. Natürlich war er dann gespannt auf der Fahrt und dem Flug: die Sehnsüchte, die Zwiespältigkeit. Nach Plastikland, New York, dahin wo unsere Zivilisation wieder abenteuerlich wird?
Die Angst des Künstlers vor dem Tag
Rituale des Alltags, hg. von Silvia Bovenschen und Jörg Bong
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 2002
Frühsommerpollenstadtsport
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten, 2001
Wie die Zecke auf Getier unter ihrem Baum, so wartet der Städter am Fenster seiner Wohnung auf den ersten ernsthaft warmen Tag des Jahres. Konzentriert, einsam und reglos hockt der Städter hinter der Scheibe, an der die Graupelschauer enden, um im Moment, in dem der Himmel aufreißt und das Thermometer eine Zwanzig vor das Komma schreibt, in die Straßen zu stürzen. Wo seit Monaten nur Hunde und Briefträger waren, sieht man jetzt den Städter flanieren, er sitzt in hundert Cafés. Die Seele des Städters im Freien ist entspannt wie der Blutdruck des Alkoholikers beim ersten Schluck Rotwein des Tages. Das Zittern lässt endlich nach.
Webcams
Berlin im Licht, Tägliche Kolumne der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 1999–2002, hg. von Stefanie Flamm und Iris Hanika, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002
Yvonnes Einsicht
Kapitel des Kollektivromans „Die Untersuchung“ über Helmut Kohl
die tageszeitung, 2000
mit Elke Schmitter, Georg M. Oswald, Elfriede Jelinek,
Hanns-Josef Ortheil, Klaus Modick, Ralf Bönt,
Tilman Spengler,Wolfgang Müller, Jochen Schmidt,
David Wagner, Joseph von Westphalen,
TOM, Hans Magnus Enzensberger
Sorry
Die Aussenseite des Elementes,
herausgegeben von Jan Wagner und Thomas Girst,
New York und Berlin 2000
Berlin, Weltortschaften?
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1999
Russischer Rap
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1999
internet magazin Panoramabus, 1998
Der Alltag 72, Im Kino, hg. von Michael Rutschky,
Elefanten Press, Berlin 1997
Geister, Geld und Generationen
Der Alltag 76, Klassenkampf,
hg. von Michael Rutschky, Elefanten Press, Berlin 1998
Der Deal
Trash Piloten, herausgegeben von Heiner Link †, Reclam Verlag, Leipzig 1997
Konzepte – Magazin für eine junge Literatur,
herausgegeben von Jürgen Deppe und Stefan Sprang, 1994
Das Dorf
neue deutsche literatur, 4/1996
Gegenüber von unserem Hof, direkt an der Dorfstraße, wohnten die Viehzüchter, unter ihnen Koch. Seine Ställe grenzten an die Ställe seines Nachbarn Huber. Eines Nachts drang Koch in Hubers Stall und Haus ein, verriegelte die Türen von innen und erklärte alles zu seinem Eigentum. Das Gezeter Hubers, der zu seinem nächsten Nachbarn Meier gelaufen war, schallte bis zu unserem Hof herüber.
Der Bulle, der Richter und ich.
Der Alltag 68, Der Übermut der Ämter,
hg. von Michael Rutschky, Elefanten Press, Berlin 1996