Opium für das Volk und die Macht

Die Probleme Ostdeutschlands sind nur Symptome der sich radikalisierenden Ideologie des Westens

In der Diskussion um den deutschen Osten ging es von Beginn an immer um Geld. Scheinbar. Die Bundestagswahl 1990 wurde zwischen der Versprechung prosperierender Landschaften und einer unpopulären Warnung vor numerischer Überheblichkeit ausgefochten. Das machen wir schon, sagte Kohl: mit Westgeld. So leicht ist das nicht, sagte Lafontaine: Das wird unglaublich teuer. Eigentlich fand die Auseinandersetzung aber auf einer nichtmateriellen Ebene statt und hieß damals schnelle Erlösung versus großer Respekt vor der Geschichte. Die schnelle Erlösung gewann so hoch wie erwartet und stellte sich, ebenfalls wie erwartet, als Trug heraus. Die Ernüchterung und ihr Tempo waren aber auch für den gemeinen Westler ziemlich heftig. In wenigen Jahren sank das Niveau des deutschen Mathematikunterrichts genauso wie das des nationalen Fußballs in unbekannte Tiefen, dafür galoppierte die Arbeitslosigkeit. Im Osten brannten Asyle. Unversehens stand man im sinnleeren Raum.
Man hatte sich überfordert und konnte doch nicht viel anders. Das eine der zwei Systeme war schließlich schon zusammengebrochen, und beim Ersatz hatte man im Moment keine andere Wahl. So wies Harry Mulisch 1993 auf den Unterschied zwischen „der langanhaltenden Begeisterung von 1917 und der kurzen von 1989“ hin. Die erste „war durch eine Hoffnung gekennzeichnet und gerichtet auf etwas, das im Entstehen war, während die zweite eine Erleichterung war, dass das Entstandene wieder verschwand.“ Wie noch nie zuvor war zu diesem Zeitpunkt die Utopie im allgemeinen diskreditiert, obwohl sie eigentlich nur Zeichen des „Verbesserungstriebes“ ist, wie Reinhard Jirgl es einmal nannte.
Und natürlich, beim zweiten Hinsehen ist auch der Kapitalismus nicht frei von Vorstellungen, die er als ideale Zukunft verspricht, ja, er könnte sich ohne ideelle Grundlage, ohne Utopie gar nicht enwickeln, könnte ohne Entwicklung sich auch nicht halten. Die Versprechung ist eine permanente Verbesserung des Lebensstandards, der die persönliche Freiheit sichert. Weil diese Idee von der Freiheit aber nicht an jeder Straßenecke benannt wird, wie man dies aus totalitären Systemen gewohnt ist, bleiben die Details diffus, weshalb grundsätzliche Kritik leicht affektiert aussieht. Das geheiligte Mittel des Kapitalismus auf dem Weg zur Befreiung jedes Einzelnen ist der freie Markt. Dass die Idee von ihm heute täglich verteidigt und ausgebaut wird, weiss der Europäer seit ein paar Jahren genau: Staunend nimmt er den Brüsseler Wettbewerbskommissar zur Kenntnis, wie er das Buch oder den Fußball zur reinen Ware erklärt. Diese muss aus Gründen der reinen Leere dem reinen Wettbewerb ausgesetzt sein. Wegen der garantiert total freien Wahl des Arbeitsplatztes durfte der FC Barcelona zum Beispiel die komplette niederländische Nationalmannschaft samt Trainer kaufen und damit gegen Madrid spielen. Als die Fans in der Küstenstadt trotz gewonnener Meisterschaft protestieren, dies sei nicht mehr ihr Team, verstand das freilich jeder sehr gut: Fußballspieler sind vielleicht doch nicht nur Ware. Die Funktionalisierung eines Fußballspiels oder eines Buches für einen vermeintlich höheren und deshalb abstrakten Zweck ist nichts anderes als ideologischer Natur. Verlorenheit anstelle von Freiheit ist das Ergebnis. Soweit so normal, könnte man mit Mulisch sagen, der „einen ideologischen horror vacui“ diagnostizierte. Schließlich erhält man noch immer einen religiösen Mehrwert, der Teilnahme heißt oder Geborgenheit. Um nicht zu sagen: Systematische Geborgenheit.
Das Problem setzt aber spätestens dort ein, wo diese Teilnahme und Geborgenheit systematisch versagt wird, und dafür ist Ostdeutschland ein sehr gutes Beispiel. Nicht der materielle Nachteil eines mit Geld weniger gut ausgestatteten Teils der Bevölkerung erklärt dabei die Popularisierung rechtsextremer Ansichten, dieser ist viel zu wenig existenziell. Noch die DDR lag schließlich in der Weltwirtschaftsrangliste auf Platz 11, und von Angola aus betrachtet waren die Aufgeregtheiten um Deutschland schlecht nachvollziehbar. Nein, Wucht entwickeln die Differenzen innerhalb der deutschen Gesellschaft erst vor der konstitutiven Kraft, die dem Geld innewohnt und – das ist entscheidend: gleichzeitig nicht allgemein akzeptiert wird. Der Mannheimer Philosoph und Medientheoretiker Jochen Hörisch schreibt in „Kopf oder Zahl – Die Poesie des Geldes,“ dass mit dem Zusammenbruch monetärer Systeme „unbefragt eingespielte Geltungslogiken und häufig genug auch selbstbewußte Subjekte“ kollabieren. Es versagt also die Konstruktion des Ich, das man sich vor der Welt erarbeitet hat. Schon Canetti, daran erinnert Hörisch, hatte in seiner Studie „Masse und Macht“ die Erkenntnis beschrieben, dass dem schnöden Geld „massenbildende Wirkungen zuzuschreiben [sind], die über seine eigentliche Bestimmung weit hinausgehen und etwas Sinnwidriges und unendlich Beschämendes an sich haben.“
Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass diese Erkenntnis eher den Zurückgesetzten zur Verfügung steht, als denjenigen, denen das Glück hold war: Jedermann wird nun auf sich selbst geworfen. In einer der Fernsehtalkshows zum letzten Silvester, um ein Beispiel zu nennen, wurde Birgit Breuel nach der Anzahl der Nationen gefragt, die an der Expo teilgenommen hätten. Ihre richtige Antwort war dem Veranstalter dreitausend Mark für einen wohltätigen Zweck wert. Breuel wusste sie, es waren mehr als hundert. Die Moderatorin – Sabine Christiansen und Gerhard Delling machten das zusammen – stimmte zu und das Publikum, das bei solchen Anlässen Signale für sein Verhalten bekommt, applaudierte. Dann lächelte Frau Breuel, was sehr selten vorkommt, und wies darauf hin, dass diese vielen unterschiedlichen Nationalitäten die ganze Zeit gut miteinander ausgekommen wären. Nicht einen Zwischenfall hätte es gegeben!
Für diesen Vergleich – von buchstäblich unvorstellbaren Beträgen ausgestattete Ausstellern mit den vor der Geschichte zu kurz Gekommenen – darf man der Managerin vermutlich weniger Zynismus als vielmehr pures Unwissen und Nichtverstehen unterstellen: Besser macht es die Situation freilich nicht. Denn das, was nach der Ernüchterung der Gläubigen geschieht, beschreibt Mulisch so: „Die Liebe zu etwas, das es nicht gibt, äußert sich sogleich wieder als Haß gegen etwas, daß es sehr wohl gibt und das es auszumerzen gilt.“ Und wenn es nur ein einzelner Schwarzer ist, der mühsam aufgetrieben werden musste, oder eine unbewachte Synagoge. Ob in Ost oder West, das ist in einer Gesellschaft mittlerweile egal, die ihre Integrationskraft als ökonomischen Hemmschuh versteht und sich zunehmend polarisiert, also längst rückwärts entwickelt. Der Extremismus ist nur die Rückseite einer sich unwidersprochen radikalisierenden Ideologie des Westens.

© Ralf Bönt