Warum man wissenschaftliche Ergebnisse manchmal langsamer publizieren sollte
Man soll Feste feiern wie sie fallen, besagt eine Volksweisheit, die hierzulande sicher nicht zuviel, aber doch immer mehr Anwendung findet. 2000 war so ein Fall: Obwohl man nicht recht wusste, ob man vorrangig das vergehende Jahrhundert verabschieden oder vielmehr das kommende begrüßen sollte, gefeiert musste werden. Alles andere war Spielverderberei.
Einen besonderen Gag hatten sich einige Computerfachleute und Betriebswirte einfallen lassen: Sie behaupteten, die elektronischen Systeme würden ausgerechnet wegen zwei Nullen zusammenbrechen und Katastrophenalarm auslösen – mindestens. Diese Verifizierung des Tatsächlichen wäre das große Ereignis gewesen, das den wahren Stand unserer Kultur markiert und damit uns unserer selbst auf trickreiche Weise versichert hätte. Bekanntlich fiel y2k als ein solches sinnstiftendes Element aus, Boris Jelzin war der Star des Abends. Nachdem sich in der neuen, mental aber keineswegs vom Fleck kommenden deutschen Hauptstadt der Nebel am Neujahrstag verzogen hatte, blieb deshalb die Frage nach der Zukunft umso klaffender offen. In diese Lücke sprang, nach einigem Hin und Her, das Gen.
Es sind faszinierende Momente, wenn Menschen einen weiteren Baustein im unendlichen Rätsel der Natur entdecken. Das galt für alle großen Entdeckungen wie das heliozentrische Weltbild, in dem die Planetenbahnen nicht mehr chaotisch, sondern als Ellipsen plötzlich sehr schön aussahen. Es galt für das Wasserstoffatom, welches das Periodensystem der Elemente restlos erklärte oder die Tektonische Theorie der Kontinente, die einem beim Blick auf die Weltkarte noch heute Schauer über den Rücken jagt. Selbst die Mondlandung arbeitete noch der Depression entgegen, die jedes Individuum anlässlich seiner definitiven Bestimmung ergreifen muss. Nichts war umsonst, sondern Teil eines größeren Ganzen.
In dieser Gesellschaft wird es das Gen in überschaubarer Zukunft sehr schwer haben. Denn der jetzige Kenntnisstand ist offensichtlich weitaus weniger als die Entdeckung eines göttlichen Manuskriptes das zwar unleserlich, aber immerhin mittels bekannter Buchstaben verfasst wurde und also seiner Interpretation und Auflösung entgegen sähe, um sogleich nach Lust und Notwendigkeit umgedichtet zu werden. Evolutionär wäre dies ja sinnvoll, schließlich geht es um Leben und Tod. In Bezug auf die Biographie eines menschlichen Körpers aber wissen wir momentan nicht einmal, ob das Gen die Buchstaben, die Grammatik oder das Papier dazu ist. Die Theorie zum Gen fehlt komplett. Ein Tor ist, obiger Weisheit nach, wer dies schon als Grund zur Trübseligkeit nimmt. Schließlich wissen wir nicht weniger als vorher.
Ein wenig Nachdenklichkeit fällt den Puristen aber doch an, wenn man an die 90% denkt, zu denen das Gen entziffert ist: Warum feiert man nicht – sozusagen in Ruhe – bei Hundert? Und hatte nicht Bill Clinton in seinen späten Amtstagen der Nanotechnik die Zukunft bereits zugesagt, mithin sich und den wahlkämpfenden Seinen gleichzeitig den betörenden Glanz eines hoffnungsvollen Blickes nach vorn gegönnt? Eigenartigerweise blieb dem Nachrichtennormalverbraucher kein bleibender Eindruck von dieser Wissenschaft der kleinen Apparate zurück. Vielleicht, so grübelt mancher schon kulturpessimistisch, ist es gar keine richtige Disziplin, die Nanotechnik, sondern ein zu anderen Zwecken ausgebildeter Begriff, der vereinzelte Fortschritte auf eine wissenschaftlich wenig sinnvolle Weise summierte. Man muss es befürchten, und zwar, weil eine solche Politik der Publikation und, man kann es ruhig sagen: voreiliger Vermarktung die Erkenntnisse lang- und auch mittelfristig zu diskreditieren geeignet ist. Die geweckten Hoffnungen werden kaum bedient werden können. Der Rummel wird, so motivierend er augenblicklich daherkommt, ab einem erreichbaren Punkt kontraproduktiv.
Es gibt Beispiele: Die kalte Kernfusion, als Lösung aller Energieprobleme propagiert und gesucht, wurde Anfang der Neunziger Jahr von Martin Fleischmann und Stanley Pons an der University of Utah in einer Pressekonferenz als gefunden gemeldet. Es handelte sich um den ersten krassen Fall der journalistischen Berichterstattung eines wissenschaftlichen Ergebnisses vor dessen wissenschaftlicher Verifikation, also Bestätigung. Diese Bestätigung ist für ein Experiment gegeben, wenn ein zweites, vollkommen unabhängiges Labor den Versuch identisch wiederholen kann. Im Fall der vermeintlichen Kernfusion, die das Labor der beiden sicheren Nobelpreiskandidaten zerstört hatte, schien die journalistische Verwertung wegen der Bedeutung des revolutionären Fundes legitimiert. Allein: Es handelte sich wahrscheinlich um eine unbeabsichtigte Knallgasexplosion, wie nach einigen Wochen Verwirrung berichtet wurde. Es dürfte den anderen Forschern auf dem Gebiet seitdem nicht leichter gefallen sein, Gelder für ihre Arbeit einzuwerben. Tatsächlich verschwand das Thema weitgehend aus der Öffentlichkeit.
Ein noch viel haarsträubenderes Beispiel waren Ronald Reagans Pläne um den Sternenkrieg: die sogenannte Strategic Defense Initiative, SDI, wollte etwa unterirdische Atomexplosionen zünden und aus der Energie Laserstrahlen herstellen, mit denen die fliegenden Raketen aus dem Reich des Bösen in riesigen Höhen zerstört werden sollten. Der erste Teil der Idee erstaunte: Wie wollte man die ungeheure Energie einer solchen Explosion kontrollieren, um ein Präzisionsgerät wie den Laser anzutreiben? Die Geschichte der Wissenschaft besteht nun prinzipiell aus der Realisierung des Unmöglichen oder, siehe Mondfahrt, dessen, was als unmöglich erscheint. Das Gelächter über SDI erschallte unter Fachleuten damals erst beim zweiten Teil: wie wollte man einen Laserstrahl – er ist ja nichts als Licht – zum Ziel bringen, wenn New York etwa unter einer Nebeldecke liegt? Die Reichweite der Wunderwaffe wäre aberwitzig gewesen.
Das Gelächter verstummte freilich vor den Geldmengen, die das publizistische Spiel den beteiligten Forschern in die Kassen spülte. Man musste Edward Teller hierfür auf schmerzhafte Weise beneiden. Wenige Jahre später fiel die Physik vor der US-amerikanischen Politik in Ungnade und dümpelte nun in der Wissenschafts- und Weltgeschichte gleichermaßen vor sich hin. Neue Impulse gehen jetzt vielleicht von Buch jr. aus, obwohl jeder Naturwissenschaftler intuitiv noch immer den Kopf schüttelt beim Gedanken an eine Raketenabwehr und sich von einem Fachmann wie Theodore Postol prompt bestätigt sieht (SZ vom 15.2.).
Der Zweck heiligt also nicht immer die Mittel, vielmehr finden wir uns in der sonderbaren Situation, den Fortschritt in einer Zeit zu feiern, in der mit AIDS und BSE zwei Seuchen auf uns zukommen, deren Bedrohungspotential niemand vernünftig abschätzen kann. Die Evolution arbeitet halt nicht nur für uns, sondern auch für Viren und Prionen. Der Grundsatz der Evolution heißt: Stillstand ist Rückschritt, weil nichts stillsteht. Im Jargon der Zeit müsste man sagen: Die biologische Konkurrenz pennt nicht. Dies ist der Grund warum man Forschungspotentiale auch in Zukunft höchst effizient wird einsetzen müssen. Neben den Millionen für die Gene sollten wir deshalb nicht vergessen, eine Gruppe von Politologen, Publizisten, Volks- und Betriebswirten mit der Frage zu konfrontieren, wie man AIDS-Medikation und Prävention in Afrika betreiben kann. Und einige Fachleute sollen herausfinden, was der Verbraucher, verdammt nochmal, an einer europäischen Fleischtheke nun wissen kann und was nicht. Das ist, auf neudeutsch und mit einem Sektglas in der Hand, vitales Interesse. Längere Publikationswege, ergo höhere Qualität und weniger Euphorie sind in dieser Hinsicht an mancher Stelle ehrenwert.
© Ralf Bönt