Besuch in der Ohnmacht

Eine Reise zu den Killing Fields in Kambodscha

erschienen in: Süddeutsche Zeitung, Juli 2010

 

Eine der aktuellen Geschichten aus Kambodscha geht so: Nhem En wurde im Alter von zehn Jahren von den Roten Khmer rekrutiert und stieg im Regime von Pol Pot zur rechten Hand von Duch auf, dem Chef des Todeslagers S-21 in Phnom Penh. Über zwölftausend Menschen wurden dort gefoltert und ermordet, darunter der Junge, der gestand “CIA” zu sein, weil er glaubte “CIA” bedeute “genug Essen”. Nhem war der Fotograf der Opfer, der die Vorgänge im Lager penibel dokumentierte. Er floh 1979 mit Pol Pot vor den vietnamesischen Truppen nach Thailand, und erst 1997 sprang er ins Amnestieprogramm der Regierung ab, die letzte Chance nutzend. Heute ist er Vizegouverneur im Norden seines Landes. Als solcher versuchte er, dem Journalisten Erich Follath einen Knochen Son Sens zu verkaufen. Son Sen war der letzte, erst 1998 ermordete Weggefährte Pol Pots. Der Preis für das exklusive Andenken war kambodschanischer Standard: ein US Dollar. Follath ließ ihn abblitzten.

Mehr Erfolg verspricht sich Nhem jedoch mit der Pol Pot Gedenkstätte, die er in Anlong Veng, dem letzten Zufluchtsort der Terroristen, plant. Er möchte “das Beste aus der Situation machen und Touristen anlocken”. Mit einem Versöhnungsmuseum. Der ARD gab er gern Auskunft über seine Tätigkeit im S-21, und zwar “fast mit einem Hauch Stolz” in der Stimme, wie der Sender berichtet.

Desorientierter kann man wohl nicht sein. Schlimm, dass Nhem En keineswegs eine Ausnahme ist, sondern der Normalfall. Ein mordender Handlanger aus dem S-21 etwa posiert heute gegen dreihundert Dollar Gage für Fernsehteams in Choeung Ek, den Killing Fields vor den Toren der Stadt. Dorthin brachte man die Menschen nach der Folter, und vor der Kamera zeigt der Mann, wie er seine an der Grube knienden Opfer mit einer Eisenstange erschlug, weil Gewehrkugeln zu teuer waren.

Aber auch im kambodschanischen Alltag erlebt der Reisende tägliche Irritationen: Zum Beispiel wie die Fremdenführer in Angkor Wat ihre Witze über die noch beinahe frischen Einschusslöcher in jenem Relief auf der Südflanke des Haupttempels machen, das die Strafen für Lügner, Diebe und andere darstellt, wie sie im Großreich der Khmer vor sechshundert oder tausend Jahren ausgeübt wurden. Dass sie den Methoden im S-21 gleichen, ist den Führern gern eine Nebenbemerkung wert. Aber auf deren Begleitung durch eine seriöse Geste wartet man vergebens: Mimik, Gestik, Tonfall sind eher, wie man sie vom Boulevard kennt. Anteilnahme erlebt man nicht. Verkauft wird der Schauer. So erzählen die Begleiter in Überlandbussen auch stundenlang über das Bordmikro von Pol Pots Leuten und Massakern, als gehe es um den Flohmarkt der letzten Woche. Und die Kunstexperten im Nationalmuseum in Phnom Penh, die den Besucher mit einem auch beim besten Willen nicht zu verstehenden Englisch durch die Ausstellung scheuchen, sind desinteressiert und garnieren die Bemerkungen vom Fehlen wichtiger Funde hier oder in den Tempelanlagen mit einem Lächeln oder bestenfalls mit für den Besucher gespielter Empörung: “War time!” Als hätten die Kinder von nebenan Süßigkeiten gestohlen. Wer noch Zweifel daran hat, dass der Mensch eine unabhängige innere Instanz für richtig und falsch vollkommen entbehrt, kann sie in Kambodscha begraben.

 

S-21-von-aussen

Das S-21 von außen

 

Der Eingang des S-21 von innen, linker Hand Stände mit Erfrischungsgetränken und Andenken

 

Die Opferzahlen der Herrschaft Pol Pots variieren etwas, in den nicht mal vier Jahren kam vermutlich jeder vierte Kambodschaner ums Leben. Aus mehreren Gründen ist der leider gängig gewordene Begriff vom Autogenozid weder an sich noch etwa im stets heiklen Vergleich zu anderen Zivilisationsbrüchen dabei hilfreich. Vielleicht kann man sich darüber streiten, wann das Land destabilisiert wurde: Schon mit der Kolonisierung durch die Franzosen 1863, welche in der Verwaltung gezielt die angeblich zuverlässigeren Vietnamesen einsetzten? Oder erst 1940 durch die deutsche Besatzung von Paris, die den sofortigen Einmarsch der Japaner und Thailänder zur Folge hatte? Endgültig dann aber durch das Bombardement der USA, das ohne Kriegserklärung vom Nachbarstaat ausgedehnt wurde und dabei alles an Massierung in den Schatten stellte, was die Welt zuvor gesehen hatte. Sie spülte den erfolglosen Pariser Studenten und späteren Landschullehrer Pol Pot alias Saloth Sar an die Macht. Nicht genug: Weil er von moskautreuen Vietnamesen gestürzt wurde, hatte Pol Pot einen Sitz bei der UNO bis 1991, die USA und China wollten das so. Von einer Bastmatte im thailändischen Holzverschlag aus dirigierte er mit seiner legendären weichen Stimme, die man via Internet anhören kann, seine Diplomaten durch ein Manhattan, das er nie gesehen hatte, und seine Terrortruppen durch den Norden seiner Heimat. Sie gewannen immer mal Land dazu und verloren es wieder.

Gewalt kann eine soziale Bindungsnorm werden, wie Wolfgang Sofsky argumentiert. Aus den mit Adoptionen befassten Institutionen hört man jedenfalls, dass kambodschanische Kinder niemals weinen.

Das ist uns nicht neu. Von August 1949 bis März 1950 bereiste Hannah Arendt ihre Heimat und erzählte, dass die Deutschen sich Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen schickten, die es gar nicht mehr gab. “Und die Gleichgültigkeit”, schreibt Arendt, “mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert. Sie spiegelt sich in der Apathie wieder, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder vielmehr nicht reagieren. Es sieht so aus, als ob sich die Deutschen nun, nachdem man ihnen die Weltherrschaft verwehrt hat, in die Ohnmacht verliebt hätten.”

Man kann die Ausläufer dieser Ohnmacht bis in die aktuellen Debatten unserer Außenpolitik hinein verfolgen. Psychologisch haben wir es mit dem Phänomen der Dissoziation zu tun, das dem Erleben und Erinnern der Katastrophe vital entgegenwirkt. Es ermöglicht ein Weiterleben überhaupt erst. Alexander Kluge und W.G. Sebald haben einst auf die Lücken in den Kriegserzählungen hingewiesen. Die Lücken in der Erinnerung und der Wahrnehmung erzeugen natürlich immer neue im Bewusstsein und in der Handlungsfähigkeit, und zwar auf allen Seiten: “Die Situation eines Nazi-Gegners,” schreibt Hannah Arendt denn auch, “ähnelt dem Schicksal eines normalen Menschen, der zufällig in eine Nervenheilanstalt gesteckt wird, deren Insassen alle an ein und derselben Wahnvorstellung leiden: Unter solchen Umständen wird es schwierig, seiner eigenen Wahrnehmung noch zu trauen.”

Den Opfern in Kambodscha wird es mit Nhem En und seinen ehemaligen Kollegen heute so gehen. Allerdings sind die allermeisten sowohl Opfer wie Täter und eine Unterscheidung fällt schwer. Nhem Ens Kollegen sind schließlich in jedem Dorf und jeder Familie. Die Ohnmacht wird so zum unbemerkten nationalen Überlebensprogramm. Sie mag erklären, warum die Irritationen sich bis in den Besuch im S-21 und der Killing Fields fortsetzen und auch im Jahr 2010 zur Herausforderung für den Reisenden anwachsen.

 

Eine der Haupthallen des S-21 im Jahr 2010: Metergroße Löcher in der Decke, viele Exponate vom Regen beschädigt und von der Wand gefallen.

 

Das Foto eines namenlosen Opfers auf dem Boden, rechts Folterchef Duch mit Biografie

 

Von Nhem En hergestellte Fotografien der Opfer, hier ausschließlich Kinder

 

Stefan V. Jensens fotografische Arbeit über die Opfergalerie des S-21

 

Darstellung des Lageralltags vom überlebenden Maler Vann Nath, der heute in Phnom Penh ein Cafe betreibt

 

Zwar wurde das S-21, eine ursprünglich nach der bitteren Frucht eines Baumes Tuol Sleng genannte Schule, schon bald nach Pol Pots Flucht in eine Gedenkstätte umgewandelt. Aber dieser Ort entbehrt heute jede angemessene Würde. Das Personal verkauft gelangweilt Tickets und drängt dann zum Kauf von Broschüren sowie dem Engagement eines Touristenführers mit abermals unzulänglichem Englisch. Den Innenhof nutzt es als Parkplatz und für Rauchpausen. Wir stehen bald in einer von keiner Barriere geschützten Folterzelle und sehen, wie Besucher Instrumente, mit denen getötet wurde, anfassen und wieder hinlegen. An der Decke direkt über uns sind Blutspritzer. Im dritten Stock finden sich in der Decke quadratmetergroße Löcher, und im Sommer regnet es überall herein. Man sieht, wo zuletzt das Wasser über die Exponate lief. Viele Schautafeln stehen am Boden, weil sie von der Wand gefallen sind. In einer Ecke findet sich ein ordentliches Bild vom Folterchef Duch, mit Kurzbiografie daneben, darunter steht am Boden das abgefallene Bild eines namenlosen Opfers, – kommentarlos.

Der Besucher erfährt auch nur die Eckdaten der Revolution, eine systematische Information gibt es nicht. Die Pathologie Pol Pots, die sich an diesem Ort ganz entfaltet hat, wird nicht ansatzweise transparent. So waren die meisten der im S-21 Ermordeten nicht etwa Regimegegner, sondern KP-Kader. Und die meisten der Folterer im S-21 mussten eines Tages die Seiten wechseln. Sie gaben dann ihre Versäumnisse zu, etwa entweder nicht hart genug interviewt oder die Verräter zu schnell getötet zu haben, immer mit der Absicht, dem Regime zu schaden. Dann starben sie selbst, wie man in Büchern nachlesen kann. Nur sieben Menschen überlebten.

Eine der beiden oberen Etagen des S-21 ist vollständig dem aberwitzigen, im Gefüge der nicht dargestellten Weltpolitik aber belanglosen Besuch der schwedischen Intellektuellen um Gunnar Bergström gewidmet, die wie so viele andere die Revolution noch 1978 unterstützten. Sehr störend ist schließlich eine fotografische Arbeit, die ein unbekannter europäischer Künstler gemacht hat, Stefan V. Jensen. Sie steht seit sechs Jahren am Ende des vierstündigen Rundgangs. Jensen lichtete die Fotos der Opfer, die Nhem En damals gemacht hat, abermals ab. Die Doppelung soll nach Auskunft des Künstlers die unerlösten Seelen darstellen, denn: Wird ein Buddhist nicht binnen sieben Tagen ordnungsgemäß bestattet, so kann er nicht in sein nächstes Leben hinüber gelangen. Er muss auf ewig als Geist zwischen den Welten umherwandern. Jensens banale fotografische Darstellung wirkt neben den schmerzhaften gegenständlichen Malereien des Überlebenden Vann Nath bestenfalls ambitioniert, ist tatsächlich aber herzlos. Offenbar ist man bloß stolz, einen westlichen Künstler zu zeigen. Kunst in der Gedenkstätte: kein Problem. Qualität Nebensache.

Am Ende des Rundgangs schließlich – wir sind noch immer innerhalb des Todeslagers – steht der Besucher vor einem Shop mit Uhren, allerlei DVDs und T-Shirts, in dem eine grell geschminkte Amerikanerin um Postkarten der Riverside Phnom Penhs feilscht: hübsche Cafés an der Mündung des Mekong. Und am Tor fallen die Rikschafahrer über uns her. “Killing Fields”, werfen sie uns in die Gesichter, “Killing Fields, Killing Fields. Ten Dollar. Tommorrow Killing Fields. Tommorrow. Ten Dollar.”

 

Grotesk: Viele Touristen lassen sich gerne vor den Schädelsammlungen fotografieren

 

Der Baum, an dem Kinder erschlagen wurden, davor kürzlich gefundene Zähne und Knochen

 

Im begehbaren Bereich der Gedenkstätte, in den der Besucher geleitet wird: Halb im Boden steckende Kleidungsstücke, unterhalb der Baumwurzel ein flach an der Oberfläche liegender Knochen, vermutlich ein Oberschenkel.

 

Was Robert D. Kaplan dort 1996 gesehen und als ignoranten Tourismus beschrieben hat, erleben wir am nächsten Tag in einer krass gesteigerten Art. Vor einem Turm mit hunderten ausgestellter Schädel der Ermordeten lässt sich ein japanisches Paar mit Cheese-Lächeln fotografieren – von einem ebenfalls lächelnden Angestellten der Gedenkstätte. Direkt am Turm knipst der Tourist sich unbehelligt noch ein paar Mal selbst mit dem Apparat am ausgestreckten Arm, die Schädel auf Augenhöhe nur wenige Zentimeter entfernt, seine Grimassen dabei heroisch.

Schnell wenden wir uns ab und gehen an den Stationen des kleinen Geländes entlang. Kleine Schilder informieren: Ausladen der Gefangenen, Feststellung der Personalien, dann sofortige Abführung zur Grube und Exekution. Das alles auf ein paar Metern. An den ausgehobenen Gruben bittet ein Schild darum, die ehemaligen Massengräber nicht zu betreten. Kuriose Vorstellung, denke ich, wundere mich aber über die herumliegenden Kleidungsstücke. Zwei oder drei stecken halb im Boden. Dann stehen wir vor dem Baum, an dem die Kinder erschlagen wurden, hier liegen einige Knochen und Zähne seltsam nebeneinander aufgereiht, wie eben gefunden. Da entdecke ich unter meinem Schuh einen in der Erde liegenden Knochen, offenbar ein Oberschenkel.

“In der Regenzeit”, erklärt mir ein junger Museumsführer wenige Minuten später, “kommen sie hoch.” Er schaut mich an, als er sagt: “Wir haben noch nicht alle wegräumen können.” Und auf den Schautafeln sieht man: Zwei Drittel des Massengrabes liegen hinter dem für Touristen zugänglichen Areal. Sie sind bis heute unberührt.

Diese Nachlässigkeit ist mit keiner Religiosität zu erklären. Sie ist ein weiterer Ausweis der Ohmacht. Hannah Arendt schrieb 1950 über Deutschland: “Die jüngere Generation scheint wie versteinert zu sein und ist unfähig, sich auszudrücken oder einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen.”

Das bestätigt auch die in den letzten Jahren intensivierte Forschung zum Transport kriegsbedingter Traumata über die folgenden Generationen. Noch handelt es sich um ein frisches interdisziplinäres Forschungsgebiet. Grob gesprochen aber hat man den Eindruck, dass nur zwei aktive Haltungen zur Geschichte möglich sind: Affirmation, wie sie Nhem En selbstverständlich ist, oder schroffe Ablehnung. Letzere wurde in Deutschland von den Studentenprotesten vertreten, deren einer Ausläufer neuer Terrorismus war. Man sieht: Im Zentrum, dort wo die zivile Heimat verankert sein müsste, steht die Katastrophe und blockiert den Zugang zu Welt. Dies ist der Grund für die häufigste, die dritte Haltung: Das Wegsehen, den Wunsch nach Unwissen, das Schweigen der Überlebenden, für ihr Desinteresse am neuen Alltag und dem ihrer Kinder. Es handelt sich um einen inneren Tod, wie ihn exemplarisch Lizzie Doron für Überlebende des Holocausts dargestellt hat. In vielen Fällen kommt es zu einer Vertauschung von Eltern- und Kindrollen, indem die Jüngeren zu früh Verantwortung für die Älteren übernehmen müssen, und die Effekte breiten sich über viele Generationen aus. Vielleicht kann man sogar die in Deutschland von Michael Winterhoff geführte Debatte um die Abschaffung der Kindheit in dieser Linie verstehen. Die Heimatlosigkeit der Nachgeborenen, die in Deutschland so oft beschrieben wurde, verwundert jedenfalls nicht. Aber sie verhindert jene positive Zielsetzung, von der Sebald sprach, “im Sinne etwa der Verwirklichung von Demokratie”.

Deshalb ist Therapie so wichtig, wie sie in Kambodscha jetzt wenigstens für kleine Gruppen und meist von Ausländern wie der deutschen Psychologin Judith Strasser angeboten wird. Strasser hält mit Angehörigen Trauerfeiern in Choeung Ek ab und steht ihnen während des Prozesses gegen Folterchef Duch bei. Der allerdings fällt tatsächlich aus der Reihe. Er bereute und bat schon mal um Vergebung. Ob sie zur Verfügung steht oder nicht, und auch wenn er am Ende doch auf “unschuldig” plädieren ließ: Es war schon mal ein kleines Licht auf der elend langen Zeitskala der Katastrophe Kambodschas. Das Urteil über Duch wird am 26. Juli verkündet.

(Copyright Text & Fotos: Ralf Bönt)