Das Jahrtausendende ist eine Lücke

Das Jahrhundertende bietet dem Romancier eine einmalige Gelegenheit, so könnte man meinen. Die Bedingungen des Zeitpunktes wollen im Blick zurück historisch und mit Blick nach vorn auch definitiv politisch verstanden sein. Eine Hinwendung des Romans zum Kollektiven, zum Gesellschaftlichen hat aber schon früher in den Neunziger Jahren stattgefunden, etwa mit Marcel Beyers „Flughunden“. In den Achtzigern hatte man ja noch gern eine sogenannte Innerlichkeit gesucht und gefunden. Woher diese Abwendung vom Äußerlichen damals genau kam, ist heute nicht vollständig aufzuklären. Vielleicht ist sie im Zuge der Forderung nach individuellem Glück, das die Protestgeneration mit Vehemenz und vollkommen zu Recht einklagte, zu verstehen oder aus der Ablehnung der Kunst durch viele politische Aktivisten, wenn man an den Papiertiger-Vorwurf gegen die Gruppe 47 etwa denkt. Vielleicht ist die Abwendung auch eine Reaktion auf eine allgemeine Überpolitisierung zu Beginn der siebziger Jahre gewesen, eine große Müdigkeit nach dem vorläufigen Ende der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den staats- und familientragenden Protagonisten des Nationalsozialismus.
Oder man kann spekulieren, daß sie viel direkter die politische Ratlosigkeit im Klima des endlos und statisch gewordenen Kalten Krieges widerspiegelte. Ich neige zu einer solchen Interpretation, und glaube, daß man mit dem Abstand des Weitsichtigen, der das Buch mit ausgestrecktem Arm von sich weghalten muß, um lesen zu können, aus einer Literatur die Verfassungen ihrer Zeit ein Stück weit rekonstruieren kann. Die Literatur wäre dann wissender, als sie selbst ahnt, und das scheint mir angemessenen für eine Gattung der Kunst.
Vor beinahe zehn Jahren trat das Literaturmagazin Konzepte etwa, in dem Beyer, Norbert Niemann und andere damals arbeiteten, mit der Forderung nach einer Repolitisierung der Literatur auf. Man befand sich denn auch mitten in der Aufbruchstimmung der Ära Gorbatschow: Die Verfangenheit des Einzelnen in Geschichte und Politik war wieder offenbar geworden und setzte ihn, der mit der Individuation längst überfordert war, um ein entscheidendes Stück instand. Man interessierte sich wieder für „Biografie“ als Lebenslauf in Abhängigkeit von den äußeren Umständen. In diesem Klima wandten sich exemplarische Autoren wie Beyer und jetzt Norbert Gstrein historischem Stoff zu. Dabei fällt auf, daß Autoren dieser – meiner – Generation ihre Erzählung gern in die Zeit des Nationalsozialismus verlegen. Das verwundert zunächst nicht, denn hier findet man ergiebiges Material, wenn man das so sagen darf, und die Ernsthaftigkeit des Unternehmens ist, solange man ausreichend recherchieren kann und sich vom Kitsch fernhält, sichergestellt. Peter Härtling sprach auch jüngst davon, daß jetzt die Biografien Material würden. Die letzten Kriegszeugen sterben gewissermaßen aus, das ist die zufällige Koinzidenz der sauberen Zahl mit dem Lauf der Geschichte, die 2000 zu einem wirklichen Scheitelpunkt macht. So darf der Literat heute jedenfalls wieder von Erfahrungen sprechen, er darf das klassische Motiv der besonderen Erlebnisse seiner Helden als exemplarische kollektive Erfahrungen bewegen. Das ist gut, denn auch das Buch erreicht seinen standesgemäßen Wert, wenn das Lesen nicht nur ein Erlebnis ist, sondern das Leseerlebnis über sich selbst hinausweist: zu einer Erfahrung wird. Wird es nun also einen Erfahrungstransport, einen guten Transfer des Wissens dieses Jahrhunderts über die Wendemarke 2000 hinweg geben?
Ich glaube, die Chancen stehen sehr schlecht. Die Literatur, und besonders die von meiner Generation geschriebene, behandelt vielmehr genau die Lücke zwischen der historischen kollektiven Erfahrung einerseits und den kollektiven Bedingungen der heutigen Existenz wie sie sich aus dem Lauf der Zeit ergeben – oder gerade nicht ergeben – andererseits.
Technisch gesehen haftet dem „Umgang mit dem Material“, so nannte es Härtling, immer ein spekulatives Moment an, das schnell auf Kosten der Authentizität geht. Diese ist notwendig, wenn aus dem Erlebnis ein inniges und dann eine Erfahrung werden soll. Imre Kertész hatte, aus Anlaß des Kinofilms „Das Leben ist Schön“ von Roberto Benigni, darauf hingewiesen, daß „die Authentizität zwar in den Details stecke, aber nicht unbedingt in den gegenständlichen.“ Die technischen Schwierigkeiten der Detailrekonstruktion sind so das Problem des Verstehens an sich und die Authentizität korrespondiert mit der Wahrheit: Daß beide Begriffe dabei unscharf bleiben, liegt in der Natur der Sache. Meine Verwunderung über die Popularität, die der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg als Gegenwart für biografisches Erzählen heute erfahren, gründet jedoch in diesen Schwierigkeiten. Der fiktive Beobachter hat, so scheint mir, große Mühe das Strukturelle seines Stoffes souverän darzustellen und keine Chance, eine beteiligte, und durch das Beteiligtsein sich automatisch selbst entstellende Haltung zu offerieren. Dazwischen aber ist leicht Unentschiedenheit: das halbe Beteiligtsein oder das Halbbeteiligtsein. Man läuft Gefahr, Luftwurzeln der Fiktionalität herzustellen, wo Erfahrung und der Versuch der Aneignung von Erfahrung – von Verarbeitung sollte man nicht sprechen – erwarten werden darf. Daher scheint es mir sehr viel leichter und in diesem Sinne plausibler, in einer Biografie von heute zu forschen, zu versuchen, diese Biografie im Lichte des Vorhergehenden zu begreifen, das Problem also hier und heute anzusiedeln und von hier und heute aus anzugehen. Daß Benigni und Beyer das andere Kunststück gelang, beeindruckt vor dieser Überlegung um so mehr. Beide springen über jene, im Ende des Jahrhunderts just erreichte Grenze, von der Peter Härtling sprach. Ohne das Niemandsland zwischen den Grenzstationen freilich durchgehend besiedeln zu können. Eher ist das Niemandsland selbst Thema dieser Kunstwerke, als die Geschichten, die in ihr spielen oder eben nicht in ihr spielen. Diesem Ort gilt eine seltsame, abstrakte Sehnsucht.
Dem Phänomen der in den Krieg zurückverlegten biografischen Erzählung hat Norbert Gstrein mit seinem Roman „Die Englischen Jahre“ nun quasi die Krone aufgesetzt. Nicht nur erzählt Gstrein eine kuriose Geschichte von verwechselten Identitäten, er baut auch noch einen Rahmen drum herum, der das oben geschilderte Problem des authentischen oder fiktiven Beobachters zum Gegenstand hat: Max will eine Biografie schreiben, nämlich eigentlich die eigene, aber dazu kann er sich nicht durchringen aus zwei Gründen. Erstens aus den vordergründigen Überlegungen, eine Autobiografie sei schamlos und so fort. Und zweitens aus dem Glauben heraus, seine eigene Biografie sei wegen der speziellen, großen Unbeteiligtheit nicht interessant. Er möchte viel lieber „verschwinden“. Deshalb begeistert er sich so sehr für Hirschfelder, einen Mann, an dem der Krieg scheinbar unachtsam vorbeiging und in dem Gstrein seinen alter ego erkennt. Hirschfelder schreibt Zeit seines Lebens angeblich an einem „Meisterwerk“: Ein Buch über diverse, durch den Krieg bestimmte Lebensläufe. Max wird für seine Begeisterung an dieser Person belächelt und gibt den Plan auf, wiederum das Buch über Hirschfelder zu schreiben. Seine Exfrau aber stößt plötzlich auf das gesuchte Material und erzählt uns schließlich die Geschichte.
Norbert Gstreins Bücher sind bislang mit einiger Skepsis aufgenommen worden, aber hier hat er sein spezifisches Problem direkt attackiert. Es besteht darin, daß die Figur Max, die gleich zu Beginn des Buches unschwer mit Gstrein selbst identifiziert wird, eine belanglose Biografie im Schatten der unzähligen, im literarischen Sinne „großen“ Biografien des Krieges zu leben hat und die Aneignung jenes Stoffes für ihn eine Anmaßung ist. Dabei ist das Buch sowohl konsequent, wie für die zu schreibende Mentalitätsgeschichte zum jetzigen Zeitpunkt auch exemplarisch. Es macht das Halbbeteiligtsein entschieden zum Standpunkt. Damit geht es über Marcel Beyers „Flughunde“ als Versuch der Aneignung von geschichtlicher Erfahrung der vordergründig Unbeteiligten hinaus, da es die schreibende Generation einschließt. Auch wenn es das Problem der Lücke freilich überhaupt nicht löst: Es spricht vom Niemandsland, das uns von unserer Geschichte trennt, als etwas Leerem. Gstrein hat das Problem selbst, das sowohl ein prinzipielles wie ein Generationenproblem ist, benannt und auf die Spitze getrieben. Mit den Worten Peter Rühmkorfs lautet es: „Wer nichts erlebt, hat viel Zeit zum Wahrnehmen.“ Und Marcel Beyer beschrieb vor kurzem einen Besuch im Sender Gleiwitz, wo der Zweite Weltkrieg begann. Sein Befremden, sich selbst an diesem Ort wiederzufinden, entsteht zwischen der Unfaßbarkeit gegenständlicher Details und der plötzlichen Einsicht, den Sender auf demselben Wege betreten zu haben, wie die deutschen Soldaten 1939. Die Geschichte selbst bleibt dabei ungreifbar. Aber man hat den Irrtum, daß die bloße Aussparung schon spannend zu lesen wäre, während das Arbeiten am Gegenstand vulgär sei, beinah überwunden.
Natürlich aber gibt es auch Autoren der sechziger Jahrgänge, die ihre Helden mit kollektiven Eigenschaften ausstatten und im Heute ansiedeln. Norbert Niemann oder Thomas Meinecke zum Beispiel bejahen offensiv die Politizität des gegenwärtigen Romans. Auch hier gilt: ihre Biografien werden Material. Beider Autoren starke Betonung des Diskursiven allerdings – Hubert Winkels sprach gar vom Ableben des Romans in dieser, unseren Generation – könnte vom Mißtrauen gegenüber der Erfahrung herrühren. Im Diskursiven jedenfalls wird wieder ein spekulatives Element gestärkt, und zwar auf Kosten des Authentischen, welches die Kunst dem Wissenschaftlichen eigentlich so überlegen macht. Die Lücke, das Niemandsland ist keineswegs überwunden. Aber das große Bedürfnis und die große Anstrengung, es zu erobern, ist überall herauszulesen. Man spürt den in der Zeit stehenden starken Willen. Und auch die mutwillige Ablehnung der vorgefundenen Situation, wie sie Christian Kracht demonstrierte, führte nicht zufällig zum großen, anhaltenden Furor.
Bemerkenswerter ist allerdings, dass Autoren, die ihre Jugend in der DDR verlebten – Ingo Schulze, Kathrin Schmidt –, ihrer Arbeit etwas leiser, etwas selbstverständlicher nachgehen. Ganz sicher aber ist es kein Zufall, daß es einen herausragenden Roman gibt, in dem das Niemandsland nicht sehnsüchtig umgangen wird, sondern plötzlich bedrückende Heimat ist: Doron Rabinovicis „Suche nach M.“. Trotz des eher akademisch-spröden Charmes seiner Sprache lesen sich diese Abenteuer der jugendlichen Juden als frappierend natürliche Geschichte vom Weiterleben der Traumata in den folgenden Generationen. Hier passiert das Seltene: Die neueren Biografien begreifen sich in der Kontinuität ihrer geschichtlichen Bedingungen. Und werden plausibel.
Weder ist nun Spekulation in der Kunst etwas Schlechtes, noch wird es so sein, daß keine Gegenbeispiele zu diesem Eindruck zu finden sind. Die aber zuletzt oft konstatierte Irrelevanz der westdeutschen Literatur, manchmal in komplettem Irrwitz auch als Künstlichkeit bezeichnet, ist verständlicher Ausdruck des abgerissenen Erfahrungstransportes über die Grenzen der Zeit und Generationen hinweg. Alexander Kluge und W.G. Sebald haben auf den Ursprung der Lücke in den Kriegserfahrungen selbst hingewiesen. Sie sind zu einem guten Teil nicht annehmbar. Der Mensch wehrt sich wie ein böse angefahrener Fußgänger gegen die Erinnerung. Im selben Maße wird das Wissen vom 20. Jahrhundert verloren gehen. Dietrich Schwanitz schrieb jüngst, daß die Fixierung auf eine Katastrophengeschichte keine Identität begründen könne. Und Sebald hatte vermutet, daß „jede positive Zielsetzung, im Sinne etwa der Verwirklichung von Demokratie“ nicht existiere. Sie bleibt hinter dem Niemandsland, hinter der Lücke zwischen der kollektiven Erfahrung des Krieges und derjenigen der Nachkriegsbiografien, zurück.
Und tatsächlich, unter den jüngsten Literaten mehren sich die Zeichen, daß die Lücke wächst. Der 1975 geborene und schon mit einigen kleineren Preisen ausgestattete Berliner Lyriker Björn Kuhligk schlägt eine Brücke zur vorgefundenen Gesellschaft bereits als eine Art „Hineingeborener“, er bearbeitet Uwe Kolbes „Male“ in seinem Gedicht „Fünfmal“ zu:

       ich bin dreiundzwanzig
       demokratisch aufgewachsen
       habe den Krieg im Fernsehn.

Konsequent zu Ende gegangen ist diesen Pfad bereits Biljana Srbljanovic, Jahrgang 70 und aus Belgrad. Sie sagte in einem Interview, man müsse die „Demokratie zu unserem Mythos erklären.“ Soweit muß man nicht sein, um zu bemerken, daß zum Jahrhundertwechsel die Geschichte in ihrem Freiraum selbsttätig fortschreitet und wir hinterherlaufen.

© Ralf Bönt