Das Neutrino ist konservativ

Warum in der Forschung das Tafelsilber verkauft wird

Jetzt, wo das dritte Neutrino als letztes Teilchen unserer derzeitigen Theorie der Materie und ihrer fundamentalen Wechselwirkungen nachgewiesen wurde, gibt es wirklich keinen Grund, sich der Freude zu enthalten. Nachdem die Sektflaschen leer getrunken und die Gläser gespült sind, ist aber auch der richtige Moment da, um über den Zustand der Grundlagenforschung am Beginn des Jahrhunderts nachzudenken. Man erinnert sich etwa an die Weisheit, dass wissenschaftlicher Fortschritt meist von ungefähr kommt, jedoch nicht von allein: Es muss schon jemand das Handwerk betreiben. Vor dem Neuen kann man nämlich die Augen lange verschließen.
Als Aristoteles zum Beispiel im 4. Jahrhundert v. Chr. anhand des runden Erdschattens, den die Sonne auf den Mond wirft, feststellte, dass die Erde keine Scheibe, sondern ein Ball ist, widerlegte diese neue Erkenntnis nicht das alte Wissen. Vielmehr hatte sich der Horizont verändert. Statt nur den eigenen Aktionsradius zu überblicken, hatte man plötzlich eine verblüffende Vorstellung vom Ganzen bekommen. Was im Kleinen galt, musste fürs Große nicht revidiert, aber erweitert werden: Konnte der Bauer die Krümmung der Erdoberfläche beim Bestellen des Feldes getrost vernachlässigen, so scheiterte der Philosoph damit beim Blick in den Himmel. Für das Verhalten im Alltag reicht das Wissen um eine in der ersten Näherung platten Erde aber bis heute aus: Man wird auf dem Weg zum Supermarkt mit dieser Vorstellung nicht stolpern. Tatsächlich vergaß man die Entdeckung des Griechen auch halbwegs, bis zu Beginn des 16. Jahrhunderts die ersten Erdumsegelungen glückten. Jetzt war die Kugel gewiss.
Fast gleichzeitig rückte Kopernikus die Sonne in den Mittelpunkt der Welt, und auch hier war nicht das alte Wissen über Bord geworfen. Denn lediglich die großen Vorteile in der Beschreibung der Planetenbahnen ließ den Forscher den Nullpunkt seines Koordinatensystems in die Sonne legen. Natürlich bewegte sich deshalb kein Himmelskörper anders. Nicht die Welt selbst, nur die Vorstellung der Welt vereinfachte sich. Man träumte jetzt von einer Mondreise.
Später erfand Newton die Trägheit, um das Weiterfliegen des Apfels nach Verlassen der Hand besser zu erklären als Aristoteles es getan hatte. Und noch mal weiter in der Geschichte der Physik ersetzte man den Äther als Träger der Radiowellen und des sichtbaren Lichts durch die Annahme eines elektromagnetischen Feldes in einer absoluten Raum-Zeit. Das Michelson-Morley Experiment führte Einstein zur Annahme, dass die Lichtgeschwindigkeit eine Konstante sei. In der Folge musste man die absolute Raum-Zeit mit relativistischen Korrekturen versehen, freilich nur, wenn man nahe der Lichtgeschwindigkeit war. Der Apfel flog jetzt nicht wahrnehmbar anders. Aber man verstand plötzlich die Anomalien in der Bahn des Merkur.
Die nächsten Beobachtungen führten zur Quantenmechanik des Wasserstoffatoms, die das Periodensystem der Elemente als Spiel von Kern und Elektronen erklärte. Man baute Laser, die heute im Alltag viel Zeit und Geld sparen. Man zertrümmerte die Kerne und fand Nukleonen, man zertrümmerte die Nukleonen und fand Quarks. Die Beobachtungen verfeinerten bis Anfang der Neunziger Jahre unsere Vorstellung von der Welt. Zu dieser Zeit bestätigte das Europäische Kernforschungszentrum CERN in Genf die derzeit gültige Theorie der Elementarteilchen, das sogenannte Standardmodell. In einem 27 Kilometer umfassenden Ringtunnel hatte man für viele hundert Millionen Mark Elektronen und Positronen aufeinandergeschossen und dabei die Theorie mit sehr großer Genauigkeit vermessen.
Das Resultat ist ein Satz von letzten Teilchen, in dem das Elektron noch vorhanden ist. Es hat einen elektroschwachen Partner, das Elektron-Neutrino. Dieser leptonischen Paare nun gibt es drei: da sind noch das Myon und das Tauon, jeweils mit ihren Neutrinos. Die drei Paare unterscheiden sich nur durch eine Eigenschaft, nämlich ihre Ruhemasse, die physikalischen Eigenschaften – man erinnert sich an das Periodensystem – wiederholen sich identisch. Desgleichen geschieht nun bei den Quarks: Unter den drei Paaren up-down, charme-strange und bottom-top ist jedes folgende Paar eine schwerere Kopie des anderen.
Die Neutrinos wechselwirken nur extrem schwach, deshalb ist ihr Nachweis oder ihre Produktion so schwierig. Dass sie aber eine Masse haben, und zwar jedes eine andere, war immer aus einem sehr einfachen Grund klar: Ansonsten wären sie identisch. Denn man unterscheidet Teilchen nicht anhand ihrer Partner in der Wechselwirkung, sondern anhand ihrer Ladungen und Ruhemasse. Es ist die überzeugende Ästhetik der Theorie, die drei verschieden schwere Neutrinos fordert, genauso wie sie übrigens die Existenz eines jeden Antiteilchens vorschreibt, wie das Positron dasjenige des guten alten Elektrons ist.
Nun war die genaue Bestätigung des Standardmodells im Genfer Tunnel vor knapp 10 Jahren eine sehr ambivalente Geschichte. Denn mit der hohen Energie, mit der man den Teilchen zu Leibe rückte, war auch die Hoffnung verbunden, Hinweise auf die neue Theorie oder anders gesagt: neue Hinweise auf die nächste Theorie zu bekommen. Denn zuende ist die Physik sicher auch mit dem Neutrino und dem erst 1995 am Fermilab nahe Chicago nachgewiesenen, sehr schweren top-Quark nicht. Die Physiker treibt seit vielen Jahrzehnten ein viel grundsätzlicheres Problem um: Nicht nur die Frage nach dem Ursprung der aufsteigenden Ruhemassen unter den drei Familien, wie sie an die Situation vor der Erklärung des Periodensystems erinnert, ist offen. Vielmehr ist die Masse selbst heute die fragwürdigste Größe der Naturwissenschaft.
Die Theoretische Physik zerfiel bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Zweige Relativität, welche die gravitative Wechselwirkung in gekrümmter Raum-Zeit beschreibt, einerseits und die Quantenfeldtheorien andererseits. Eine solche ist das Standardmodell der elektroschwachen und der starken Kernkräfte, denen die Leptonen und Quarks gehorchen. Leider hat bis heute niemand einen Weg gefunden, beide Zweige in einen mathematischen Apparat zu bringen. Das stört schon an sich. Aber darüber hinaus haben die Quantenfeldtheorien ein großes Problem, wenn sie Teilchen beschreiben sollen, die eine Ruhemasse besitzen. Diese Ruhemasse wiederum ist ja die Ladung, mit der sie an ein gravitatives Feld koppelt, gerade wie die elektrische Ladung die Kopplung an ein elektrisches Feld markiert. Die Ruhemasse nun führt zu mathematischen Inkonsistenzen, die man heute mit Hilfe eines besonderen Teilchens, dem Higgs-Boson zwar eher schlecht als recht zu umgehen weiß. Die Inkonsistenz oder die merkwürdige Natur des Higgs-Bosons aber, das laut Harald Fritzsch von der Uni München soviel mit der Realität zu hat, wie alkoholfreies Bier mit richtigen Bier, muss die Tür zur nächsten Theorie sein. Zu einer vereinigten Theorie von Gravitation und Quantenteilchen vielleicht.
Nach den vielen hundert Millionen, die man in Genf, Chicago, Hamburg und anderen Orten der Welt verbaut hat, ist man aber leider am Ende der experimentellen Physik angelangt. Als Bill Clinton frischer Präsident und der Kalte Krieg zuende war, wurde das allergrößte Vorhaben, dass je in der Forschung angegangen wurde, abgewickelt: Der Superconducting Supercollider – man hatte die halbe Röhre schon in den texanischen Boden gegraben – hätte viele Milliarden Dollar gekostet. Diesen Luxus wollte man plötzlich doch nicht mehr, andere Prioritäten wurden gesetzt. Vielleicht zurecht. Auf jeden Fall ist jetzt aber ein historisch neuer Punkt in der Menschheitsgeschichte erreicht: Nicht mehr die unerklärte Beobachtung treibt das Wissen über die Welt voran, sondern die Theorie selbst gibt jetzt den Ausschlag.
Nachdem das Tau-Neutrino also wie erwartet als letztes Standardteilchen gefunden ist, liegt die Hoffnung auf den Theoretikern, die immer neue Ansätze zu einer schöneren Theorie suchen und finden. Die Strings waren lange die Popstars in der Physik, heute sind es vielleicht die Quantengruppen, wesentlich von Julius Wess in München vorangetrieben. Sie sind eine erst einmal simple Erweiterung, sprich: Verallgemeinerung der Heisenbergschen Unschärferelationen. In jedem Falle wird bei diesen Unternehmungen immer neue Mathematik benötigt, die ihren Antrieb ja schon immer wesentlich aus der Physik bezog. Das erklärt die oft langsame Entwicklung in diesem Sektor. Auch Einstein übrigens benötigte geschlagene achte Jahre vom Postulat des Äquivalenzprinzips zur Ausformulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Leider aber wird in Theorie nicht viel investiert, vielmehr herrscht massiver Stellenabbau vor. Jede dritte Stelle ging in den 90er Jahren verloren. Die Modellbauer sind in den Fakultäten heute so etwas wie die Lyriker in einem kommerziellen Verlag. War Deutschland bis zum Zweiten Weltkrieg noch führend in dieser Disziplin, so konnte man danach an diese Tradition nicht mehr anknüpfen. Und seit knapp 20 Jahren läuft der Trend immer ideologischer gegen die zweckfreie Grundlagenforschung. Eine auf Ökonomismus geeichte Innovation und der bloße Wissenstransfer in die Wirtschaft hat seit der geistig moralischen Wende allen politischen Vorrang. Dass man auf diese Weise die Wurzeln aller Entwicklung kappt, wurde lange verheimlicht, ist aber ohne jede Übertreibung heute auch an der Notwendigkeit einer Green Card in Deutschland ablesbar. Und Schröder folgt Kohl in den Grundsätzen der Wissenschaftspolitik bislang aufs Wort. Das System von Kurzzeitstellen im Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses tut dann noch ein übriges: Hier siegt die Buchhalterphysik des schnellen und fortlaufenden Publizierens vor den Aufgaben des seriös und langwierig seine Ideen verfolgenden Freaks, wie Einstein einer war. Schlechte Aussichten des Jahrhunderts auf weitere Revolutionen im Verständnis der Welt und auf dem Weg zu neuen Produkten. Dabei ist Theorie denkbar preiswert.

© Ralf Bönt