Es passierte in Amsterdam: Weil sie keine Kinder bekommen kann, wird eine Frau von ihrem Mann verlassen, der mit einer anderen Frau alsbald eine Familie gründet, während die Verlassene sich auch neu verliebt, zum ersten Mal in eine Frau. Das lesbische Paar erlebt aber nur ein kurzes Glück, denn die neue Lebensgefährtin der Frau verliebt sich anschließend ausgerechnet in den Exmann und brennt mit ihm durch, nach London. Nach einigen Wochen erscheint sie plötzlich wieder bei ihrer Freundin in Amsterdam, schwanger: Sie habe nur ein Spiel gespielt, um ihr das zu geben, was sie mit dem Exmann nicht hatte haben können. Noch einmal flammt das Glück der beiden Frauen auf. Aber der Geprellte erscheint am nächsten Morgen und im Wutrausch erschießt er die Schwangere.
Den Roman “Zwei Frauen” von Harry Mulisch empfehle ich gern, was mir bislang immer gedankt wurde. Kürzlich lautete ein Kommentar einer Leserin jedoch so: Leider kippe das Buch am Ende doch in die männliche Sicht!
Sollte man kein Wohlwollen zur Hand haben, so hört man zweifellos das alte Deutschland aus ihm reden. Deutsch ist die Konsequenz, die Rücksichtslosigkeit mit der ein fixierter Anspruch verfolgt wird, etwa der politische Anspruch der Befreiung der Frau aus der Klammer des Mannes. Dabei passiert etwas kurioses: Dem Täter, hier Doppelmörder seiner Geliebten und seines Kindes, wird erstens ein Motiv unterstellt, dem man zu folgen in der Lage sein könnte, und zweitens unterläuft dies der Leserin ausgerechnet durch die umgekehrte Anwendung dessen auf ihn, was sie für die Frau ablehnt, die sexistische Qualifizierung beziehungsweise Abqualifizierung. Ideologie tut hier, was sie am besten kann und am liebsten mag: Sie schlägt sich hinterrücks selbst.
Andererseits erscheint die Reaktion der Leserin vielleicht auch nur bemitleidenswert. Hat man etwa Wohlwollen zur Hand, so hört man schlicht die Überforderung heraus, die instinktive Abwehr des eben Erfahrenen als etwas zu Schlimmes. Der Kommentar ist bestimmt von einer Unfähigkeit zur unmittelbaren Trauer, die hier als autoritärer Charakter aufblitzt. In der Mentalitätsgeschichte Nachkriegsdeutschlands spielt diese vieldiskutierte Trauerunfähigkeit eine große Rolle, aber mir scheint, sie lebt nur angeblich noch immer fort. Ausgehend von den noch aktiv am Nationalsozialismus Beteiligten, die weitgehend unfähig geblieben sind, ihren Erfahrungen und ihrem Denken zu begegnen, kann man für die Generation der Ende der Dreißiger Jahre Geborenen wohl auch noch feststellen, daß die aktive Leugnung der Scham über das nach Kriegsende Gehörte in eine Trauerkrankheit mündete. Die Großeltern von heute haben als Kinder gemacht, was diese aus vitalem Interesse am besten können: Sie haben ihre Umgebung sehr genau und kritisch beobachtet, haben die Stimmlagen der Kommentatoren in Fernsehen und Radio gehört, haben die Gesichtsausdrücke ihrer Eltern gesehen, wenn sie sich über die Zeitung gebeugt und Bemerkungen zugeraunt oder Blicke gewechselt haben. Die fürchterlichen Wahrheiten, die in den Kinderköpfen und Kinderherzen unserer jetzigen Rentner Eintritt zu einer Gefühlswelt verlangten, hat diese hart gemacht. Krampfhaftes Festhalten an einer ungesunden Selbsteinschätzung einerseits und übersteigerte Anpassung an die Umgebung andererseits sind die Symptome der Trauerkrankheit. Die Umgebung hieß in diesem Moment Kapitalismus und Marshallplan, ihr Logo ist das historisch ausgesprochen kurzlebig gebliebene Kleinfamilienhaus, mit dem der westdeutsche Stadtrand bestellt wurde. In ihm sah man am Dienstag Abend “Dallas” an, statt mit den Kindern zu reden, und Mittwoch morgens fuhr die Mutter mit dem Zweitwagen in die Stadt, dessen historischer Kern, falls nicht zerbombt, nach dem Krieg mitleidlos abgerissen worden war. Auf die künstliche Brache hatte man tatkräftig Kaufhallen und Verwaltungsgebäude gestellt und als schiere Landschaft anerkannt.
Erst Ende der Sechziger Jahre war diese Akzeptanz vorbei. In der Biografie der Eltern-Kind-Verhältnisse hatte es nach der engen Bindung in den Fünfzigern seitens der Kinder den Bruch mit ihren im Nationalsozialismus aktiven Eltern gegeben. Von Anpassung an die Umgebung war keine Rede mehr. Im Windschatten ihrer älteren Geschwister und im Vakuum einer stabilen bis statischen Gesellschaft versuchten die Anfang der Sechziger geborenen Kinder der betäubten Eltern in den Siebzigern, sich ihre eigenen Leben zu basteln. Es war die erste Phase der Freiheit, angeblich. Nun ist Freiheit aber ja kein Privileg, sondern eher eine Pflicht, wie wir längst wissen, und vielen wurde sie tatsächlich zur Last. Die relative Zahl der Abiturienten stieg stetig, die Zahl der Studenten stieg also auch, mit ihr aber auch die der Studienabbrecher, Studienfachwechsler, Langzeitstudenten, Umschulungen und schließlich die der Tischlerlehrlinge mit Prädikatsabitur. Sie alle vereinte das Gefühl, daß es eigentlich ganz egal ist, was genau man macht, Hauptsache, man bringt die Zeit irgendwie rum. Die Korrelation von Bildung, Leistung und Ertrag, Grundlage des Wirtschaftswunders, ging unwiederbringlich verloren. Orientierung war von den betäubten Marshallplanern, die störrisch immer weiter machten, nicht zu erwarten. Sie wollten und wollen an der schönen Illusion festhalten, dieses Land so hübsch wieder aufgebaut zu haben mit eigenen Händen. Gönnt es Ihnen jemand nicht? Doch. Aber traurig war man eben auch nicht weniger zu recht und konnte sich nicht entscheiden zwischen dem natürlichen Wunsch, Teil eines Ganzen zu sein, oder dem bestenfalls noch existenziellen Anspruch, aus dem Glücklichsein keine banale Schnäppchenjagd zu veranstalten. Fernreisen wurden bezahlbar und populär, halfen aber nicht weiter.
Dabei entsprach das Gefühl der Indifferenz jener Jahrzehnte der Ahnung, einer Lüge aufzusitzen und daß diese Lüge fürchterlich sei. Heute liegt die Bestätigung dafür auf dem Tisch. Der sogenannte “Kalte Krieg,” die längste kriegsfreie Zeit, die den Geburtenstarken anstelle der traurigen eine fröhliche Jugend hatte schenken sollen, war weder je kalt noch ist er jetzt – glücklich oder unglücklich – zuende gegangen. Hier liegt die heute spezifische Trauer begraben, die sich so oder so äußert. Haben die Studenten 1968 vielleicht noch die Wut ihrer Eltern über sich selbst ausgedrückt, so weinen die Geburtenstarken den in ihren Eltern vergrabenen sprachlosen Schmerz. Wenn das Anmaßung ist, dann muss man sagen: Kinder sind halt so. Auch wenn die Eltern davon nichts wissen wollen und auf der Treppe vor dem Kleinfamilienhaus lieber Fotos schießen, solange der Taxwert in einem sich entvölkernden Land das noch zulässt.
Es ist also gut möglich, daß der verbiesterte Ton unserer Leserin, von der eingangs die Rede war, sich in erster Linie noch immer aus dem Wiederholungszwang der Trauerkrankheit der Eltern speist, weil sie persönlich, wie es häufig geschieht, vor der Lösung stehen blieb. Schade eigentlich, denn mangelndes Interesse an neuen Einsichten und neuen Verhältnissen kennzeichnen die Krankheit, Inkompatibilität führt zur Aggression. Aber es kommt in jedem Fall noch etwas anderes entscheidend Belastendes hinzu, was den Jammerton füttert: Die in den frühen Sechziger Jahren Geborenen müssen den Zerfall des fragwürdigen Lebenswerkes ihrer Eltern nicht nur mit ansehen und erleiden, tatsächlich müssen sie es – und ihn, also sowohl das Lebenswerk wie den Zerfall – rückwirkend auch noch finanzieren. Auffälligerweise hört man aber kaum je Klage darüber, dass die Gleichung des Marshallplans seit der zurückgekehrten Massenarbeitslosigkeit und erst recht seit dem Ende des Sozialismus gar nicht mehr gilt. Dass ausgerechnet jetzt, wo man eigentlich selbst Kinder zu erziehen hätte, die deutsche Einheit zusammen mit den Schulden aus vierzig Jahren Aufbau abzuzahlen sei, was die Arbeitslosigkeit treibt, in der Deutschland bekanntlich führend ist. Oder darüber, dass die oberen Etagen der Kleinfamilienhäuser in Nürnberg, Augsburg und Oldenburg leer stehen, zum Erhalt der von niemandem benötigten Bausubstanz geheizt werden und die nächste Explosion der Mieten bevorsteht. Dass sie nicht nur in Berlin, dem größten Sanierungsgebiet Europas, mühselig Altbauten sanieren, in denen die Geschichte erzählbar und damit Weiterleben möglich wird, statt, was viel billiger wäre, abermals alles abzureißen, Neubauten hinzustellen und den Rest des Lebens mit einem Kater zu verbringen, weil keiner mehr weiß, was gestern war. Dass preisgekrönte Architekten in Stuttgart und Berlin für zehn Euro die Stunde arbeiten, in den Projekten zwischen den Phasen der Arbeitslosigkeit. Und zum Glück hört man die Klagen nicht.
Denn es wäre angesichts der Vergangenheit noch immer lächerlich. Andererseits wird viel zu viel nach vorne gesehen, als daß zum Weinen Zeit bliebe: Sehr wohl im Windschatten von 1968 betreiben die Geburtenstarken den Umbau der trauerkranken, autoritären Gesellschaft. Dass sie dabei die erste Generation seit Kriegsende sind, die gegenüber den Eltern sozial absteigt, gilt nur, solange man den sozialen Status auf die sexuelle Beziehung zum Girokonto reduziert. Und nicht nur darüber ist man lange hinaus: Der verbiesterte Ton der verärgerten Leserin hat sich überholt. Gerade die Geburtenstarken sind weder mit jener Potenz zur Schuldzuweisung ausgestattet, mit der ihre Eltern noch heute dauernd über sie herfallen, noch mit einer Bettelhand. Nicht nur die Sanierung von Altstädten und anderer Altlasten beider deutscher Nachkriegstaaten trägt sie. Sie füllt die kulturelle Lücke, in der sie aufwuchs, mit einem Leben, das für die Zukunft des Landes von weit größerer Bedeutung ist, als ein paar Ziffern vor oder hinter dem Komma des Wirtschaftswachstums, des Rentenbeitrages oder des Benzinpreises. Sie sieht nicht nur dem Zerfall des alten Deutschland zu und refinanziert ihn, sie treibt den Abschied vom alten Deutschland simultan auch noch voran: Wer in den Siebzigern die Schule schwänzte, um hinter der Kirche Haschisch zu rauchen, geht heute öfters mal bei Rot über die Ampel und bringt dem eigenen Kind bei, daß nicht das rote Licht, sondern ein Auto die potentielle Gefahr darstellt. Und man tut das sogar als Vater. Während man an Fragen der Rechtschreibung desinteressiert ist, geht man mit den wenigen Kindern, die man sich leisten kann, Sonntags zum Fußball und redet anschließend sogar mit ihnen darüber. Es kann vorkommen, daß man immer noch keine Mikrowelle in der Küche stehen hat und die Ferien um einen Tag verlängert, Baden-Württemberg erwägt gar ein Bußgeld. Dafür bietet man seinen Kindern Lebensentwürfe an, die variantenreicher nicht sein könnten, und weder auf bedingungsloser Autorität noch auf rücksichtslosem Konformismus beruhen.
Zugegeben: Nicht jederzeit ist heute der Aufbau, der Umbau, der Fortschritt als solcher leicht zu erkennen. Das in den teuren Sanierungsgebieten gelebte Klima ist nach den grauen Jahren der latent ideologischen, oft affektiven Systemkritik, der einseitig aggressiven Geschlechterdebatte und der Eiszeit in den Betten auch beileibe nicht umsonst zu kriegen. Trennungsquoten von Eltern sind hoch. So hoch, daß man längst erkennen muss: Mit dem Ende des Kleinfamilienhauses, dieser Heimat der Engstirnigkeit und Brutstätte verkorkster Biografien im Gewand der Altersvorsorge, ist eine neue Kultur auf dem Weg. Die steigenden Zahlen berufstätiger Mütter und erziehender Väter sind der Beginn einer neuen Gesellschaft. Ich darf mit Stolz berichten, drei gute Freunde zu haben, die sich vornehmlich der Kindererziehung widmen, während ihre Frauen arbeiten gehen. Und ich darf mit Dank berichten, daß eins der größten Geschenke mir der gute, alte Feminismus gemacht hat: Ein intaktes emotionales Verhältnis zu meinem achtjährigen Sohn. Davon konnte mein Vater nur träumen, ohne sich morgens noch daran erinnern zu können. Was für eine rasante Entwicklung. Möge die Regierung eine PR-Agentur engagieren, um uns jeden Morgen daran zu erinnern!
Nichts dabei gegen die Billiarden, welche die Marshallplaner vererben oder besser auf Mallorca verplempern. Sie haben es schwer genug gehabt. Aber auch wenn dieses Land mittelfristig weitere Anteile am weltweiten Neuwagenabsatz an asiatische Länder abgibt: Am Erbe der Geburtenstarken, obwohl es nicht auf ein Polaroidfoto passt, wird unter Schweiß und Tränen gearbeitet. Die lebendigere, dynamischere, zur Selbstreinigung fähigere Gesellschaft wird neben mehr Lebensfreude auch wieder materielles Kapital, Wohlstand und vor allem Stabilität aus ihren Fertigkeiten schlagen können. Neue Flexibilität und Geistesgegenwärtigkeit, die von Regierung und Opposition erträumt werden, sind längst auf dem Weg. Und kleine Gesten der Versöhnung gibt es auch schon: Heute hört man die Großeltern oft zu ihren getrennt lebenden Kindern sagen, daß dies ja besser sei, als ein Leben lang in den Handschellen einmal getroffener Entscheidungen und dem Haus der starren Rituale eingesperrt zu bleiben. Im Moment sind wir noch mitten im Übergang, aber: Die Nachkriegszeit geht mit dem Bezahlen der letzten offenen Rechnungen durch die Geburtenstarken definitiv zuende. Folgende Generationen werden befreiter arbeiten können, und, mal ehrlich, das kann man heute schon überall sehen.
© Ralf Bönt