Der soldatische Mann

Rückzug der Vernunft: Die Debatten um das Beschneidungsverbot von Köln und Martin Mosebachs Forderung nach einer Strafe für Blasphemie täuschen Mehrheitsmeinungen vor

Süddeutsche Zeitung, Juli 2012

Zensur täte der Kunst ganz gut, meinte jüngst Martin Mosebach, als ob die Kunst nicht immer gegen Zensur anarbeitete. Es ist nicht zu pathetisch zu behaupten, dass es immer der Beruf des Künstlers ist, Ungesehenes zu zeigen und Ungesagtes hören zu lassen. Wenn Mosebach glaubt, die Freiheit sei kein Recht und kein Bündel an Rechten, etwa des Künstlers, sondern eine «Eigenschaft seiner Person, die sie in einem Leben der Selbstüberprüfung erworben hat», so möchte man dies nicht Herta Müller zumuten oder gar Imre Kertész, der sich die Freiheit herausnahm über das Glück im Konzentrationslager zu schreiben. Noch immer manches Mal missverstanden ist das freilich keinerlei Relativierung, sondern der Bericht über die Verteidigung des Menschen vor genau jener Unfreiheit, die ihm der Mensch selbst auferlegt.

Was bei Mosebach die Lust an der Zensur ist, erinnert vielleicht an die Lebensunlust eines Franz Kafka, dem Max Brod vorwarf, die Krankheit zu sehr willkommen zu heißen. Dabei fehlt dem Kollegen aber die Kafkasche Noblesse, wenigstens nicht andere noch damit zu behelligen. Außerdem gibt es schon genug trampelige Menschen, die ohne immer neue Beschränkungen einen Freiheitswillen überhaupt nicht spüren. Sie lassen ihren Mitmenschen gern wissen, dass so eine Krankheit auch ihre Vorteile habe. Schließlich habe man nichts ohne Grund und gehe doch gereift aus ihr, dieser Prüfung, hervor. Ein bisschen TB oder Krebs, eine ordentliche Mukoviszidose, ein bewaffneter Raubüberfall nachts im Park mit folgenden Panikattacken: Krankheit ist so nicht nur Metapher, wie Susan Sontag schon kritisierte. Sie fördert auch die Nähe zu Gott, wie exemplarisch der Londoner Vikar Reverend Henry Whitehead im 19. Jahrhundert meinte.

Der sah in der Cholera statt eines Abwasserproblems lieber den göttlichen Fingerzeig. Warum inmitten der tobenden Seuche ausgerechnet von den fünfhundert Bewohnern des Arbeitshauses in der Poland Street, das einen eigenen Brunnen hatte, niemand erkrankte, konnte aber auch er nicht erklären. Natürlich steht es jedem jederzeit frei, die Kunst oder den Geist über das Leben zu stellen. AIDS mag man dann nicht virologisch erforschen, sondern als Warnkatastrophe verstehen, mit der Gott uns enthaltsam, monogam oder doch wenigstens heterosexuell zu machen sucht: Glauben hat Wissen ersetzt. Und statt eines Kafkas oder Kertész ist man jener Künstler, der – nach Camus – schockieren muss, weil er nicht zu überzeugen vermag.

Das wäre angesichts der Mehrheitsverhältnisse heute keinen Kommentar wert. Und gehört man zu jener sich artikulierenden Mehrheit, denen das Leben noch vor der Musik kommt, dann zuckt man nur mit den Schultern, wenn man dafür der Vulgarität bezichtigt wird, wie Navid Kermani dies mit überraschender Vehemenz tut. In der antimodernen Pose verknüpft er gar die breite Ablehnung, die dem Kollegen Mosebach widerfährt, mit der Mehrheitsmeinung zu einer nicht nur verbalen sondern körperlichen und seelischen Beschneidung, die obendrein das Selbstbestimmungsrecht eines unmündigen Jungen unter die Tradition der Religion stellt. Aber wenn behauptet wird, religiöses Leben, ob nun jüdisch oder muslimisch, sei in Deutschland – 70 Jahre nach dem Holocaust – nicht mehr möglich, muss man doch widersprechen. Und zwar gerade als Deutscher des 21. Jahrhunderts.

Es handelt sich beim Verbot der Beschneidung nämlich nicht um den Zugriff der Mehrheit auf die Minderheit, sondern um den Schutz des einzelnen Unmündigen vor dem Zugriff der als Mehrheit auftretenden Religionsgemeinschaft. Es ist hier gerade nicht der Kölner Richter, dem man in die Nähe totalitären Gedankenguts rücken kann. Die Beschneidung ist auch keine Lappalie, wie ihre Verteidiger gern sagen. Schließlich müssten sie sich dann auch nicht so aufregen. Vielmehr handelt es sich um eine irreversible körperliche und seelische, nämlich sexuelle Enteignung allerersten Ranges, nach der man sich in Mosebachs Logik des verbliebenen Restes von Persönlichkeit umso mehr erfreuen sollte. Und sie geschieht voller Kalkül: Kulturübergreifend ist der Eingriff die Initiation eines Männerlebens, in dem das Individuum stört. Mit der Vorhaut schneidet man schließlich die männliche Empfindlichkeit und deren Schutz ab: Man kehrt den Mann nach außen, ins Ungeschützte.

Diese Kehrung des Mannes nach außen ist das Soldatische, das Leben im Veräußerten. Sie ist das Leben des Mannes, das bis heute jeden Männerberuf vom Handwerker über den Fußballspieler bis zum Politiker und Konzernchef prägt: Der Mann ist glatt wie Edelstahl, rein wie Goretex und startbereit wie eine Rakete.

Und so steht er auch vor der Frau: Schon die noch heute geltenden viktorianischen Ehewerbungsrituale stellen die Gefühle des werbenden Mannes gleichzeitig zur Schau und in Abrede, während die der Frau heilig sind und geschützt oder sogar unsichtbar und unergründet bleiben müssen. Es war denn auch die viktorianische Gesellschaft, in der die Beschneidung des Mannes ihren säkularen Siegeszug antrat, und es ist die unsrige, die Betäubungsmittel in Kondome füllt. So hängen Beschneidungsrituale am Mann auch mit den schlimmen spiegelbildlichen Genitalpraktiken an Frauen zusammen, die von der Verstümmelung bis zur okroyierten Keuschheit und Passivität den immer selben Zweck verfolgt.

Statt zu einem Ausgleich zwischen den Geschlechtern, die beide bekanntlich in jedem Menschen angelegt sind, kommt es zur Eskalation. Sie sichert die Macht der hysterischen Gemeinschaft, die den Mann durch Härte, Abstumpfung und Eingliederung fügsam macht. Er soll, statt eigene Gefühle zu haben, bloß für die Gemeinschaft funktionieren.

Die Vermutung, religiöses Leben sei in Deutschland nun nicht mehr möglich, ist gerade falsch, weil Freiheit, und damit auch die Freiheit der Religionswahl, nur möglich ist, wenn der Einzelne geschützt wird. Der Schutz der Religionsgemeinschaft ist über diesen Schutz des Einzelnen installiert, denn ausgerechnet hierzulande ist bekannt, wie es ist, wenn sich die Gemeinschaft in den Besitz eines Einzelnen bringt. Die Beschneidung macht dies symbolisch und tatsächlich. Sie ist sexuelle Gewalt. Sie führt nach der Studie von Frisch, Lindholm und Grønbæk zu eben jenen Problemen, die der gesunde Menschenverstand sich auch ausmalen kann: Geschlechtsverkehr ist schmerzhaft und Orgasmen sind kompliziert. Und gerade weil die Totalitären sich auch noch die Hoheit über die Ratio sicherten, indem sie den Lauf der Geschichte zu kennen vorgaben oder den Rassismus mit wissenschaftlichem Gestus versahen, sind sie die Verwandten eines Henry Whitehead, der die Cholera für seine Lehre missbrauchen wollte.

Navid Kermanis Vorwurf des Vulgarismus ist eine Projektion seiner schwächeren Hälfte. Die meisten Menschen wollen heute aber lieber respektvoll warten, bis der Junge zum Mann wurde und selbst entscheidet, was er glauben und was er tun und lassen möchte. Die Ratio hat eben nicht nur Henry Whitehead überzeugen können, er gab seinen Irrtum großherzig zu und half in Gottes Namen bei der Erforschung der Übertragungswege der Cholera. So wurde sie schließlich besiegt. Aber danach hat sich die Ratio viel zu oft nicht mehr verteidigt.

Copyright Ralf Bönt

Einige weitere Beiträge:
Historiker Michael Brenner im Deutschlandradio zu meinem Artikel.
Psychoanalytiker Matthias Franz in der Kulturzeit zur Geschichte der Beschneidung.
Philosoph Julian Nida-Rümelin im Deutschlandradio zur Unvereinbarkeit einer einseitigen Erlaubnis der Beschneidung mit den Menschenrechten.
Bettina Röhl im Cicero zur Geschichte der Beschneidung im deutschen Feminismus.
Der Historiker Michael Wolffsohn möchte im Deutschlandradio vom Menschenopfer weg.
Thomas von der Osten-Sacken in der Jungle World über die gesetzgeberische Problematik.
Hier nochmal die Studie mit 5500 Teilnehmern, die
Klatschkolumnist Matthias Matussek im Spiegel in einem nicht unbekannten Analphabetismus lieber durch seine ganz eigene Erfahrung ersetzt. Ich antworte ihm und anderen noch einmal kurz im perlentaucher, dessen Kopf Thierry Chervel einen der besten Texte der ganzen Debatte beisteuert: Die Dialektik der Gegenaufklärung.
Bettina Röhl schreibt sehr klar im Spiegel, Ethikrat Reinhard Merkel ebenso in der SZ.
Necla Kelek, deren Buch ‘Die verlorenen Söhne’ den Stein ins rollen brachte, fasst sich in der Welt zusammen, in der auch Michael Wolffsohn seine gelehrte Meinung erneut formuliert.
Und das Pflegewiki und die Fakten gegen die Beschneidung.