Der transparente Roman

Dave Eggers: Der Circle

 

Interview MDR Figaro

Mae Holland ist Angestellte des Circle, der Horrorversion eines Amalgams aus Facebook, Google und Apple, die ihre Herrschaft auf totaler Transparenz aufbaut. Was Mae antreibt daran mitzuarbeiten, verrät sie kurz vor Ende des weit über fünfhundert Seiten starken Romans. Es ist etwas zutiefst menschliches: Sie möchte gesehen werden. «Die meisten Menschen,» erklärt Mae dem Saboteur Kalden ihre Absage zur Mitarbeit an der Zerstörung des Circle, «würden alles, was sie erfahren haben, jeden, den sie kennen, für das Wissen eintauschen dass sie gesehen und beachtet wurden, dass man sich vielleicht sogar an sie erinnern wird. Wir wissen alle, dass wir sterben. Wir wissen alle, dass wir in dieser großen Welt nicht von Bedeutung sind. Deshalb bleibt uns bloß die Hoffnung, gesehen oder gehört zu werden, wenn auch nur für einen Augenblick.» Das ist der Schlüssel zum Faszinosum Internet, das für jene meisten Menschen weniger Hoffnung auf Information ist als das haltlose Versprechen, sich selbst in die Welt einschreiben zu können: Man möchte nicht zuhören, sondern reden.

In Romanen wie «Weit gegangen» oder «Zeitoun» hatte der kalifornische Starautor die Schicksale realer Personen beschrieben, nämlich des sudanesischen Flüchtlings Valentino Achak Deng sowie des syrischen Wahlamerikaners Abdulrahman Zeitoun, der als angesehener Bürger New Orleans nach dem Wirbelsturm Katrina aus Versehen als potentieller Terrorist in ein Hochsicherheitsgefängnis gerät. Es ist nicht abschätzig gemeint, wenn man feststellt, dass Eggers hier wohlfeilen Empörungsjournalismus ins literarische überführte. Schließlich war man in diesen Büchern in der Lage, den Widerfahrnissen einfacher Menschen in extremen äußeren Situationen zu folgen, die zu unserer Zeit gehören. Deng hatte, genau wie Zeitoun, etwas zu erzählen, und wer die Bücher als zu lang empfand, muss wissen, dass das Geschmackssache ist. Allerdings zeichneten sich beide auch durch die Abwesenheit innerer Konflikte und ambivalenter Charaktere aus: Wer gut und wer böse war stand bei Eggers nie infrage, und was immer an überlegenswertem noch enthalten war, vermochte der Autor dem Leser so freundlich zu erklären, dass man es ihm nicht wirklich übel nahm.

Schon bei Zeitouns Frau Kathy stieß er dabei allerdings an eine Grenze. Wenn mit allzu einfachen Worten ihr übertritt vom Christentum zum Islam erzählt wurde, konnte einen der Verdacht beschleichen, es nicht mit einem ergebenen Menschenliebhaber zu tun zu haben, wie es zum Beispiel Eggers Kollege Stewart O’Nan ist. Eggers schrammte hier haarscharf am Sozialvoyerismus vorbei. Weil er sich für seine Figuren nicht wirklich interessiert, sondern sie nur begleitet, ist ihm jetzt eine Hauptfigur unterlaufen, die zwar gehört werden will, aber nichts zu erzählen hat. Konnte er in den journalistischen Vorgängern noch eine Erzählung vom guten Menschen aufrechterhalten, so scheitert er jetzt an einer Heldin, die sich in jeder Handlung und in jedem Dialog als leere Puppe zeigt oder deutlicher gesagt: als dummes Huhn. So stellen sich manche ja den gemeinen Facebooknutzer vor. Der Grundirrtum, der auf jeder Seite ausbuchstabiert wird, liegt in der Annahme, Menschen könnten es als Verlockung empfinden ihre Privatsphäre aufzugeben, ja sie wünschten mit Kameras und Mikrofonen behängt und von ihnen umgeben zu sein, wahllos übertragen in alle Welt an Millionen von wahllosen Beobachtern, von denen man erkannt werden möchte. Die schicken bei Eggers aber nanosekündlich nur ihre ebenso wahllosen, eitlen, euphorischen und gekränkten Kommentare. Beides ist jedoch falsch: Nicht jeder Nutzer eines sozialen Netzwerkes ist wie der Flitzer im Stadion oder der Idiot an der Strecke der Tour de France, der alles tut, um einmal ins Bild zu kommen. Und nicht jeder Kommentar ist auf dem Niveau der Werbung für billige Elektromärkte.

Science-Fiction läuft immer Gefahr, den Mangel an menschlicher Fantasie aufzudecken und furchtbar langweilig zu sein. Oft hat sie nur die Chance, die menschliche Geschichte von Liebe und Tod in skurrilem Bühnenbild noch einmal besonders charmant neu zu erzählen und uns dabei des Menschen zu versichern. Eggers konfrontiert uns aber mit einer Gesellschaft in der man nur in der Klokabine für drei Minuten offline sein darf. Aus mehr als der Annahme, dass 99,9 % aller Menschen so leben wollen, besteht der Roman nicht. Nehmen zwei von ihnen sexuelle Handlungen aneinander vor, so ahnt man, dass ein paar Zeilen später die Bilder davon in der Cloud verfügbar sind, weil ein Handy, dieses böse Ding, passend stand. Natürlich kommt es dann auch so. Der Roman zeigt leider keinen Kampf um Privatheit, er setzt voraus, dass es ihn von sehr vereinzelten Ausnahmen wie Maes Eltern und ihrem Exfreund Mercer abgesehen nicht geben wird.

Diese Voraussetzung ist falsch, weshalb man weder Mae, noch den anderen Circlern in ihren Handlungen oder Dialogen folgen kann, etwa bei der öffentlichen Selbstkritik. Das gilt auch für Mercer, der sich in den Wald zurückgezogen hat um unbehelligt zu leben, aber aufgespürt wird. Er springt in seinen Wagen und steuert ihn, von Drohnen begleitet und ins Netz übertragen, von einer Brücke in eine tiefe Schlucht. Aber welcher Erwachsene würde sich umbringen, weil er beim Autofahren gefilmt wird und warum sollte der Circle keinen kapitalen sozialen oder strafrechtlichen Schaden davontragen? Eggers zeigt nicht etwa wie sich Totalität langsam von außen vollzieht, dafür liest man besser «Die Nashörner» von Ionesco, noch wie sich Totalität in einem Menschen vollzogen hat, dafür haben wir Stefan Zweigs «Schachnovelle». Es ist ein kurioser Missgriff des Autors selbst mit seinen Figuren zu tun, was er dem Monopolisten der Kommunikation vorwirft: er entmenschlicht sie. Sie haben kein Eigenleben, haben sich schon von vornherein aufgegeben. Das Buch hat kein Rätsel und kennt keinen Zweifel, es ist selbst vollkommen durchsichtig und spekuliert auf blosse Empörung, wenn nicht aufs Ressentiment. Nicht mal beim Schreiben der einfachsten Sätze ließ Eggers sich irritieren. Kann man beim Eingangszitat verdutzt sein, wie man wohl Menschen gegen Wissen eintauschen kann, aber vielleicht noch die wörtliche Rede als Entschuldigung anführen, so geht das an vielen anderen Stellen nicht. So fühlt Mae sich bleiern, aber gut, und ein bleiches, wirbelloses Wesen ist gefärbt wie ein Wolke. Das Original ist hier allerdings etwas klarer.

Die Angst, nicht bemerkt oder falsch gesehen zu werden, eignet sich dabei überhaupt nicht zur Verniedlichung, im Gegenteil: Sie hat die allergrößten Geister von Martin Luther bis Felix Eberty zur Verzweiflung und in die Hellsicht getrieben. Das Drama von Eggers Roman besteht aber nicht aus diesem Konflikt, sondern darin, dass er sich nicht entfaltet. Nicht vorstellbar ist ihm ein Nutzer, der ab und zu beim Circle eine Information oder Unterhaltung sucht, sie findet oder eben nicht, und sich wieder ausloggt. Wie man früher in die Bibliothek ging und in deren Cafeteria. Dabei machen das so viele heute bei Facebook exakt so, im Wissen, dass echter Sex und echte Liebe anderswo sind. Camus hat einmal darüber geschrieben, dass manche Menschen den Gang zum Markt wie Zeitverschwedung empfänden, er aber gewönne welche. Diese Varianz ist für die Milliarde im Circle offenbar so wenig vorstellbar, wie die Selbstverständlichkeit, dass man mit dem Kommentieren von Kommentaren nicht sein Innerstes preisgibt, ja, dass man es selbst nicht einmal je kennen wird und das jeder weiß.

Weder interessiert sich Dave Eggers für jenes erforschte Suchtpotential, das eigentlich ein Belohnungsmechanismus einiger Botenstoffe der Hinrphysiologie ist, viele Menschen aber dazu verführt, absurd oft in die Mailbox zu sehen, wie das Thomas Glavinic als sein eigener Romanheld tat. Er fragt auch nicht, warum Milliarden Menschen lieber Mails schreiben als anzurufen, was daran Ökonomie, was Angst vor dem anderen ist, wie Colin Powell es in seiner Autobiografie einmal belustigt ausgeführt hat. Eggers fragt nicht nach der Dynamik, mit der Systeme, die der Mensch geschaffen hat, sich verselbständigen. Wann und warum sie Macht über ihn übernehmen und an welchen Schwellen Korrekturen eingeführt werden, zumal in einer schon offenen Gesellschaft mit Gewaltenteilung, wo man das Maß zu halten anfängt oder die Uhr zurückdreht. All diese Reaktionen gibt es seit Urzeiten, das Spiel von Revolution und Reaktion, und was das Internet angeht, sind wir schon fast mittendrin.

Man könnte auch einmal der Frage nachgehen, was den Programmierer treibt, eine Autokorrektur so aufzubauen, dass die Lernphase des Nutzers, in der er mit der Software mehr Zeit verliert als gewinnt, länger ist, als die Lebensdauer des Gerätes auf dem sie installiert ist. Es geht nicht nur um Geld in dieser Situation. Nach der US-amerikanischen Soziologin Liah Greenfeld ist Eitelkeit die treibende Kraft des Kapitalismus, und das dürfte auch für den IT-Spezialisten gelten, der beim Verfassen der Skripte von Whatsapp eine geheime Lust daran verspürt, Kamera und Mikrofon zu aktivieren, ohne dass der meist brav neben seinem Gerät schlafende Eigentümer das merkt. Aber vielleicht ist es bei ihm oder dem Verfasser der Autokorrektur auch nur die Unfähigkeit, sich in den anderen zu versetzen, jene Unfähigkeit, die das Lesen einer Heizkostenabrechnung schon immer unmöglich gemacht hat. Genuines Material für einen Roman!

Aber nicht einmal einen historischen Diskurs unternimmt Dave Eggers. Welchen Rang das Internet in seiner jetzigen Verfassung unter den Systemen, die die Menschheit verändert haben, einnimmt, fragt Eggers nicht und wirkt deshalb nur wie der ewige Mahner vor dem Fernsehen oder der Eisenbahn, die natürlich in den Wahnsinn treiben. Dass Mobilität, deren Verlängerung Medien sind, historisch mit der Befriedung des Menschen einhergehen, gut in Echtzeit zu beobachten seit zwanzig Jahren in Afrika, erkennt er nicht an. Eggers verfolgt das Versprechen der Kommunikationstechnik nicht zurück bis zum Anfang, dem Radio, das nicht als Volksempfänger endete, doch das müsste er, weil Ideologie immer dann entsteht, wenn eine Idee seine ursprüngliche Erzählung vergisst und nur noch sich selbst kennt. Und die wirklich spannende These, dass der Kapitalismus dem Kommunismus immer ähnlicher wird, begräbt er unter den immer gleichen, unfassbar eindimensionalen Dialogen der öffentlichen Selbstkritik, die keine Menschen führen, sondern Maschinen. Oder sind es zu Maschinen verwandelte Menschen? Das wissen wir nicht, denn anders als maschinell erleben wir sie nicht. Sie alle wollen ihren Politikern überall hin folgen, den Stuhlgang ausgenommen, und lassen sich beim Essen, im Krankenhaus, beim Einkaufen, dem Plausch mit dem besten Freund, resp. der besten Freundin filmen und ins anonyme übertragen. Und natürlich auch beim Sex. Damit im sexy Circle alles sichtbar ist. – Was für ein Menschenbild ist das denn?

Copyright Ralf Bönt