Zum Literaturnobelpreis an Imre Kertész 2002
Erst vor ein paar Tagen fiel mir beim Aufräumen meines Arbeitszimmers der Essay „Meine Rede über das Jahrhundert“ von Imre Kertész wieder in die Hand: Ein auf den ersten Blick lieblos aussehender Stoß loser Fotokopien, die in der Mitte zusammengefaltet und ein bißchen angedunkelt sind. Auf dem Rand befindet sich aber die Handschrift von Norbert Niemann, der sich für die Anstreichungen entschuldigt, die er vor dem Fotokopieren schon überall in den Text gefügt hatte, und mir auf die ihm eigene Art glühend den damals noch nicht sehr bekannten Autor empfiehlt. Neben Camus, so Niemann, sei Kertész unverzichtbar. Es war der Frühsommer 1996, das fürchterliche Jahrhundert seit über sechs Jahren angeblich vorbei, das neue vor lauter Beliebigkeit aber noch lange nicht in Sicht. Essayisten wie Kolumnisten machten sich auf vergleichbarem Niveau über Gutmenschen lustig, von denen sie nichts mehr wissen wollten, und auch die übrigen Deutschen hatten ihren Glückskredit für die neue Zeit offenbar leichtfertig verpraßt. Die Zahlungsmoral nahm rapide ab und wurde zum existentiellen Problem für den Mittelstand. Jedermann fing an, wegen allem vor Gericht zu gehen. Irgendwie war alles oder doch fast alles egal, und manch Intellektueller soll überlegt haben, ob er seine angeborene, aber wenig angesagte Ernsthaftigkeit durch eine Verkleidung in einen wie auch immer redlichen Fatalisten kaschieren könnte.
Imre Kertész‘ Zeitgenossenschaft ist ganz anders geartet. In der „Rede über das Jahrhundert“ greift er den Camus‘schen Satz von der Pflicht zum Glück auf und bemerkt, daß „Glück alles [ist], bloß kein statischer Ruhezustand, bloß nicht die Friedfertigkeit wiederkäuender Rinder.“ Das klingt kühn bis bissig, denn man weiß beim Lesen immer schon, daß Kertész als Jugendlicher aus Budapest deportiert wurde und verschiedene Konzentrationslager durchlitt, darunter, man schreibt den Namen nicht gern und muß es dann doch tun: Auschwitz. „Das im höheren Sinne begriffene Heil des Menschen,“ so Kertész weiter, „liegt außerhalb seiner geschichtlichen Existenz – nicht aber in der Umgehung geschichtlicher Erfahrung, sondern im Gegenteil darin, sie zu durchleben, sich anzueignen und in tragischer Weise mit ihr zu identifizieren.“
Ich schrieb Niemann damals meinen Dank zurück und stimmte zu, denn diese Philosophie war ja eben nicht etwa Ausdruck eines vielleicht gerade noch karnevalesken Zynismus, der als zweite Todsünde nach der Gleichgültigkeit zu enttarnen gewesen wäre, sondern der unwahrscheinliche Triumph des Sisyphus über den Stein, der ihn eben noch zermahlen wollte. Sollte gar doch eine Utopie möglich sein, fragten wir uns, und verunsichert lechzten wir damals beinahe danach. Aber so vulgär wie im Zeitgeist oder einer Ecke des dranghaften Denkens geht es im Werk vom Imre Kertész natürlich nicht zu. Nach dem Essay las ich zuerst ein vermeintlich kleineres, weil zumindest eher dünnes Buch: „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind.“ Mit großer Komik fabulieren dort zwei Philosophen im Künstlerheim, bis der eine den anderen fragt, ob er Kinder habe, und der verneinen muß: Das Nein zum Kind begründet er im Nein zur Macht, am Ende aber triumphiert das Nein zum Leben komplett. Ein trauriges, zartes Buch, ein Liebesabschiedsbrief. Ich las es viermal hintereinander, und schrieb, die Bemerkung sei mir noch einmal gestattet, direkt danach meinen eigenen Erstling über einen Westdeutschen, der seine Geschichte nicht kennt. Als ich zwei Jahre später Schriftsteller war und Interviews gab, verwies ich auf den Initialtext, schon stolz natürlich, aber ich schrieb seinem Autor auch einen Brief. Imre Kertész schrieb mir mit fremder, unbegreiflicher, tief anrührender, ja, mein eher trockenes westfälisches Wesen schockierender Freundlichkeit zurück.
Natürlich hatte ich inzwischen all die anderen Bücher und die gelegentlich in „Sinn und Form“ erscheinden Essays gelesen, natürlich wußte ich längst wie jeder andere, daß Kertész fünfzehn Jahre am Hauptwerk dem „Roman eines Schicksallosen“ gearbeitet hat, um lapidare oder aggressive Absagen der Verlage zu sammeln, dann spät doch eine Zusage, anschließend umfassende Ignoranz gegenüber dem Buch. In dem pervertierten Entwicklungsroman, der zunächst einer inneren (Un)Logik des Konzentrationslagers folgt und einem den Atem nimmt, gibt es eine beinahe unscheinbare Binnenerzählung, in der ein Mann auf einem Transport von Gefangenen sein Leben riskiert, um einem anderen, ebenfalls Totgeweihten eine Essensration zukommen zu lassen: Die perverse Logik wird dem Überlebenswillen unterworfen, der Wille zum Glück obsiegt auf eine alles und alle beschämende Weise.
Einige Male konnte man Imre Kertész in den letzten Jahren in Berlin treffen, mal las er, mal nahm er einen Preis entgegen und hielt eine Rede. Immer traf einen im Ausklang der Veranstaltungen die ausgesuchteste Höflichkeit, eine genaue, freundliche Aufmerksamkeit, man möchte eigentlich sagen: Menschenfreundlichkeit. Daß dieser Schriftsteller noch einmal fünzehn Jahre am „Fiasko,“ einem das Scheitern seines ersten Romans aufarbeitenden zweiten Roman geschrieben hat, schien in diesen Situationen nicht vorstellbar. Und es tat schon weh, daß bei Erscheinen der deutschen Übersetzung dieses Buch freundlich oder anerkennend zur Kenntnis genommen wurde, während sogenannte szenegetriebene Hauptstadtliteratur oder ähnlicher Unsinn auf Titelseiten ihren Pseudofuror umsetzen durfte. Bestenfalls töricht war aber das Gekrittel, das dem Buch vom Chef des Literarischen Quartett zuteil geworden sein soll. Ich habe nie zu denen gehört, denen das Ansehen dieser Sendung Freude bereitet hat, und so war ich auch in dem Fall nicht dabei. Man läuft aber bestimmt nicht Gefahr, als Fanatiker zu gelten, wenn man bemerkt, daß der Kritiker mit einem entgegengesetzten Verhältnis zu ebenjener Macht ausgestattet ist, zu der Kertész‘ Protagonist sein erfahrenes „Nein“ sagte, um die Konsequenzen zu tragen. Man darf darüber sicher auch verwundert sein, aber vielleicht kann man hier, um im Bilde zu bleiben und obwohl man zweifellos keine Ansprüche zu stellen hat, nicht einmal Zynismus unterstellen, und es hilft sicher nur nachsichtige Höflichkeit. Kontrastreicher ging es jedenfalls nicht.
Daß das literarische Werk von Imre Kertész nun hohe, publikumswirksame Ehrung erfährt, ist ein Triumph über so manchen Stein, und dabei ganz in sich selbst begründet. Das Unfaßbare, das uns verstummen läßt, ist ein Bonus, den diese Literatur uns gibt: Wir können auf die letzte tragische Weise stolz auf sie sein.
© Ralf Bönt