Dialogisch Manhattan

New York ist für Täter gemacht, nicht für Opfer: Das hatte ihm eine Freundin in Berlin zwei Wochen bevor er abflog gesagt. Sie konnte ihr Gegenüber mit einem Auge ruhig ansehen und gleichzeitig das andere um alle möglichen Achsen drehen, um damit den ganzen Raum zu kontrollieren. So sah es zumindestens aus, und jedenfalls hat sie das gemacht, wenn sie blau war und es wurde ihm nur vom Zusehen schon schwindlig.
Er war sicher, sie würde niemals Opfer von irgendwas oder irgendwem sein und mit der Bemerkung hatte sie ihm vermutlich den letzten Kick gegeben, endlich einmal den Flug zu buchen. Lange, sehr lange schon schob er das vor sich her. Natürlich war er dann gespannt auf der Fahrt und dem Flug: die Sehnsüchte, die Zwiespältigkeit. Nach Plastikland, New York, dahin wo unsere Zivilisation wieder abenteuerlich wird?
Dabei hielt er sich selbst auch für einen Täter, vielleicht weil es praktischer ist, und offensiv stieg er in Manhattan aus dem Shuttle. Der Präsident war in der Stadt, überall standen Absperrungen und der Bus kam nur bis zur Grand Central Station. Ein Freund, oder nein: ein Bekannter vom vorigen Sommer, von einem Treffen ausgesuchter Nachwuchswissenschaftler in Genf, lebte in Stony Brook auf Long Island und hatte ihm ein Zimmer in einem Hostel in der 29. Straße, Ecke 9. Avenue reserviert. Dahin läuft unser Held jetzt. Er sieht an den Häusern im Licht hoch und geht zielstrebig von Kreuzung zu Kreuzung. Argwöhnisch beobachtet er jeden, der neben ihm stehenbleibt, und fühlt sich – na klar – wie im Film, der sein Leben zeigt, oder doch wenigstens zeigen will, und den er zu beurteilen sicher anwesend zu sein hat.
Anhand der Bilder erinnert er sich, als Kind einmal den rauchenden Ätna in den Nachrichten gesehen zu haben: Lava, massig und glühend, rann so langsam wie undramatisch einen Berg hinab, um Häuser herum und schob sich in sie hinein. Dann zeigten sie Menschen, die mit leeren Blicken auf einigen Habseligkeiten vor Häusern saßen, vor irgendwelchen Häusern, so schien es, und der Kommentator sagte, sie seien obdachlos. Unser Held konnte sich das nicht vorstellen, als Kind, das mußte eine andere Welt sein oder ein anderer, geheimnisvoller Planet. Diese Worte konnte er nicht unterscheiden, als Kind, er besaß für sie kein Empfinden und verstand bloß, daß dort etwas Außergewöhnliches, etwas Außerordentliches passierte, etwas Kurioses vielleicht. Laut seiner Erinnerung landeten in derselben Zeit auf dem Mond Menschen und vom Sofa des elterlichen Wohnzimmers aus, im Halbdunkel vor den blaugrauen, wechselnden Aufnahmen der Sendung, hatten die Ausweisungen 
hier und da nicht wirklich räumliche oder zeitliche Bedeutung: Zueinander besaßen sie keine Bezüge. Die wuchsen erst viel, viel später und langsam und manchmal erschreckend zu einer unverständlichen Welt heran.
Das war in der Jugend, in der er dann tatsächlich einmal zum Ätna reiste, zum echten. Es war eine seiner ersten eigenen, auf eigene Verantwortung unternommenen Reisen, und er bestaunte den Vulkan in seiner Wirklichkeit dann auch anders. New York war lange ähnlich, oder genau umgekehrt. Es gab keinen Mord, der nicht dort geschah, keine Liebesgeschichte, die nicht dort spielte, spielen mußte: urbaner Amok, Weltpolitik. Kein Mythos, kein Sommer existierte, der nicht irgendwie mit der Silhouette Manhattans in Verbindung stand. New York: das eigentliche Festland, billige Sehnsucht der Schwimmer? Zweifellos konnte man sich nicht näher und fremder, konnte man nicht freier sein als in New York.
Jetzt ist sein Rucksack schwer, als er den ersten McDonalds betritt, der ihm begegnet. Er will schlichterdings 
Pommes Frites bestellen, aus Hilflosigkeit vielleicht, denkt er, mangels einer anderen Idee, einer besseren, aber der Mensch in der rotweißen Uniform versteht ihn gar nicht einmal. Unserem Held fehlt das richtige Wort. Gestikulierend versuche ich mich mitzuteilen, denkt er und wiederholt sich, zunehmend konsterniert, drei oder vier Mal. Ohne Erfolg. Bis eine junge Frau neben ihm steht und lachend: french fries! sagt und der Mensch hinter dem typischen, überall gleich flachen, überall mit Aluminiumkasse und Hartfasertabletts ausgestatteten Tresen grinsend die dürren, hell gelben, gezackten und gesalzenen, kurz: die ziemlich profanen Stäbchen eintütet. Schon ist die Frau wieder weg, die Französin war, und unser Held noch auf dem Weg zum Hostel verärgert über die Armut seiner von der Erfahrung im Beruf doch eher glanzvoll gewähnten Sprachkenntnisse.
Der check-in verläuft dann aber reibungslos.
Ohne Gepäck geht unser Held anschließend im Verkehr der Stadt: den Boden New Yorks jetzt unter den Füßen. Die Stadt winkt ihm freundlich zu, scheint es, mit gelben Taxen, die auf den groben Unebenheiten der Straßen gutmütig schaukeln, und überall mit großen Seiten Zeitungspapier, das über die Kreuzungen weht und an Ampelpfählen und Fußgängerbeinen vom Wind festgeklebt vorläufig Ruhe findet, in seiner Ziellosigkeit. Mit dreiarmigen Drehkreuzen am Eingang zur subway sieht die Stadt unseren Helden an, mit speziellen Münzen, den 
token. Mit den Bettlern kuckt die Stadt aus ihren Augen: rauher. Zwischen den gar nicht immer so aufragenden Häusern zieht sie sich häufig auf ihre Parkplätze zurück, fast immer bewacht, und – nicht so oft – spielen die erwarteten Basketballspieler hinter Zäunen. Als ob er diese Fremde doch schon ganz kennte? Er ist allein, endlich hier, denkt er sich selbst und will gelassen zurücksehen auf das vergangene Jahr und die nun wohl endgültig entsorgte Liebe in ihm.
Er ist in 
New York.
Zuhause, das fällt ihm jetzt ein, in seiner Berliner Wohnung, seiner Küche in Deutschland, hängt eine Fotografie, oder ein Poster eigentlich, einer Straßenszene dieser – ja, was? – Ballung unseres Lebens, dieses konstruierten Ultimatums: Saxophonspieler vor Hochhaus. Darunter ein Zitat der Beauvoir, sie werde New York niemals mit Worten erfassen, sie löse sich vielmehr auf in der Stadt. Vielmehr oder stattdessen, so ungefähr lautet ihr Urteil, und das, findet er, ist zu pathetisch, sagt er sich, das, sagt er sich, ist, gerade wie New York toll finden, bloß kitschig.
New York aber nicht.
Am ersten Abend, dann ganze zwei oder drei Tage streunt er beinahe kindlich erregt über die Insel. Manhattan ist Musik. Es ist April, und die Tage sind kalt. Die Luft daher klar, der Himmel blau. Manhattan ist Farbe, nicht Licht, wie etwa die Toskana, nicht fließend, bloß bunt: Die Farben springen ihn an, knallig ruhen sie in der Sonne. Er läuft über die Insel und erahnt ihre Romantik, Tag und Nacht ist unser Held unterwegs, ununterbrochen und überall hört er Musik auf sich einfallen. Er läuft und läuft, gierig, dann gieriger, er schläft kaum. Die Plattenläden klappert er ab und findet immer neue Raritäten von Hendrix und Prince, Bearbeitungen und Zufallsversionen bekannter Stücke, oder Coverversionen der eigenen Lieblingsmusik: Reichtum ihrer Kunst, die hier zuhause ist. Aus jedem ihrer Töne spricht das versammelte Leben, und diese Juwelen aufzuspüren und vom Nepp schlechter, irgendwo geklauter Aufnahmen zu trennen, von denen in Europa noch jede einzelne ein Vermögen kosten muß, so stellt er sich das vor, macht er zum Sport. Am Washington Square sieht er den Schwarzen zu, wie sie Rap hören: Manhattan hat mit der Aufdringlichkeit deutscher Altstädte, der Ponte Vecchio oder dem Mont St. Michel nichts zu tun. Es ist das Gegenteil davon, und auch mit Berlin will es sich nicht vergleichen, anders als der Allgemeinplatz es vorgibt: Mit New York läßt sich für jedes Produkt werben.
Am 3. Tag überrascht er – 
hier bin ich! – einen zweiten Bekannten von jener Sommerschule, ein Athener, an dessen Arbeitsplatz in der New York University. Unser Held gerät in ein Seminar, wo gerade sein eigenstes Forschungsgebiet verhandelt wird. Zufall? Der Vortragende, junger Assistent eines prominenten Instituts auf Long Island, lädt ihn ein, eben dort einen Vortrag zu geben. Er fährt am nächsten Tag zum ersten Bekannten auf die Lange Insel hinaus und denkt: unprätentiöser Name. Der Bekannte chauffiert ihn zum Institut und der Vortrag, schon jetzt bedeutender, gewichtiger, schicksalsträchtiger als alle zuvor gegebenen, gelingt. Jetzt ist der Held plötzlich entspannt, übermäßig gelöst ist er, fabuliert an den Bekannten hin und spaziert am Nachmittag alleine am Strand. Er legt sich erschöpft in die Sonne und schläft trotz frischem Wind ein. Zweifellos ist er Täter, und dies sein Land.
Für die restlichen 2 oder 3 Tage überläßt die Geliebte vom Bekannten unserem Helden ihr Apartment, das im East Village liegt. Sorry, hatte die Frau mit ihrem isländischen Zungenschlag gesagt, der ihm schon wegen der ausnehmenden Härte gefiel: It’s the pissiest station in town. Die Wohnungstür würde dazu noch klemmen, darauf solle er achten beim Abschließen und den Schlüssel, wenn er gegangen sei, wegwerfen.
Unser Held, zurück in Manhattan, atmet durch: Da habe ich mir wirklich was angeeignet, sagt die Arbeitsmaschine in ihm als es Nacht wird. 
Fehlte noch eine flüchtige Liebe am Ort, um ganz hier gewesen und eingeschrieben zu sein.
Am nächsten Tag zieht eine starke Erkältung auf. Er ist nicht überrascht und bleibt allein im Bett. Unten in der unwirtlichen, mit Gefahr lockenden Straße ist das Poets Café, aus der kleinen Wohnung im dritten Stock kann man es sehen, das weiß er in jenem Jahr aber noch nicht. Es wird Sonntag und unser Held fiebrig. Er hört Musik und ruft eine Freundin in Köln an: Hallo, ich bin in New York! Ja! Klasse ist es, toll, ja, es ist schon ziemlich klasse!
Am Nachmittag versucht er zu schlafen. Da klopft es. Er weiß nicht genau, ob das an seiner Tür war, denkt: anyway, für mich kann es nicht sein.
Es klopft ein zweites Mal und eine Frauenstimme sagt: Hello? Sie spricht so hell und deutlich, als stünde sie im Nebenzimmer. Sein Puls erhöht sich, sowohl in Frequenz als auch in der Stärke, er steht auf. Vom Schlafzimmer geht er durch ein kleines Mittelzimmer in die Küche, da ist auch die Eingangstür. Draußen sagt eine Frau: But her keys are lying on the table and the shoes are standing there! Unser Held sieht vor sich hin: Da stehen seine Schuhe und sein Schlüsselbund liegt darüber auf einer Glasplatte. Er begreift nicht, nervös sieht er herum. In seinem Rücken ist das Fenster, davor die immer schon 
zu freundliche Feuerleiter: Man kann von dort in die Wohnung sehen. Spielt er einen der tausend Kinofilme oder spielt einer der tausend Filme mit ihm? – Im Treppenhaus Schritte, schnelle, hastige Schritte, dann Ruhe. Er steht steif hinter der Tür. Jetzt neue Schritte im Treppenhaus, schwere, ruhige und langsame Schritte. Sie kommen herauf. Eine dunkle, ruhige, mächtige, fließende Stimme, ganz schwarz: WHERE IS IT?
Die helle, jetzt aufgeregte Stimme der Frau: Here, here, thirteen!
Sein Puls geht hinter der Tür.
Es klopft an der Tür, wiederholt, ein schweres, überlegenes Klopfen. Unser Held steht steif hinter der Tür. Die Frau ruft ergreifend, mit dem Quietschen der Panik im hellen Ton: BUT HER KEYS ARE LYING ON THE TABLE AND THE SHOES ARE STANDING THERE! Er verharrt, steht statuarisch hinter der Tür.
Es vergeht eine Ewigkeit.
Er spürt die Anderen auf der anderen Seite.
Sie atmen.
Jetzt, endlich, gibt er auf, fragt von innen: Did you knock here? Augenblicklich ist draußen vollständigste Stille, eine 
Totenruhe, er steht noch immer unbewegt. Fragt: Thirteen? Draußen die Stille, dann fragt der Baß in einzelnen Worten: WHO – ARE – YOU? Innen wiederholt unser Held die Frage, spricht aber schneller, mit hoher Stimme, mit nichts anderem als einer Knabenstimme, und betont auf dem letzten Wort: Who are you? Die Frau stößt einen kurzen schrillen Schrei aus. Simultan die dunkle, übermächtige Antwort: PO – LICE! Als wenn er definitiv gesagt hätte: Open the door!
      Endlich öffnet unser Held von innen oder besser gesagt, er will die Tür öffnen: Sie ist bereits offen. Sie klemmt nur gerade im Äußersten Rand, an der Kante des Rahmens fest, der Sicherheitshebel ist umgelegt, hatte aber nicht greifen können. Seit Samstag nachmittag, seit anderthalb Tagen, seit er sich hier aufhält, ist die Wohnung nicht verschlossen, drang vermutlich Tageslicht durch den Spalt in das Treppenhaus.
Vor ihm steht jetzt der Cop im Türrahmen, ganz schwarz und zwei Meter groß, einen breit, mit dem Alu-Stock in der rechten Hand schlägt er sich lässig in die linke. Hinter dem Cop die kleine Frau, im selben Alter wie unser Held, mit einem verchromten Fahrradlenker in Händen, daneben ein Mann mit einem Baseballschläger, wie die Frau unserem Helden sofort sympathisch. 
Naiv, sagt die Arbeitsmaschine zum Helden, wehrlos, sagt sie ihm, eine Stufe tiefer, halb um die Ecke im engen Treppenhaus entdeckt er einen zweiten Cop.
I’m a friend of Heiddis, sagt unser Held knapp.
Yu‘ gat identity? fragt der Große schmucklos, und der Held nickt, geht seinen Paß suchen. Der Cop kommt herein, schreitet die Zimmer der Wohnung ab, ein wenig majestätisch nimmt sich das aus, durchaus majestätisch, denkt unser Held, er sucht die Leiche, denkt er, 
wie blödsinnig, denkt er, der Cop blättert im Paß, sieht unserem Helden ins Gesicht und gibt ihm das Dokument zurück. You know, sagt der Cop freundlich, we are in Nu‘ Yoack City, und lächelt ihn trocken an: Don’t trust anybody.
That’s why I didn’t answer, sagt unser Held hell und der Cop nickt im Weggehen.
Die beiden Stockwerksnachbarn bleiben noch einen Moment. Auf dem Dachboden seien 
homeless, versichern sie. Die Versammlung löst sich aber, kaum daß unser Held sich besinnen kann, wieder auf, und er ist allein. Er steht eine Minute herum, zieht sich an, schleppt sich aus dem Haus Richtung Broadway und geht essen.
Fuck it, denkt er auf dem Weg, und sein Gehirn grinst ihn blöd an: New York – da mußte dich abarbeiten.

© Ralf Bönt