Die Kunst ist kein Ismus

Wider die Forderung, mit Literatur gegen das Fernsehen zu kämpfen

Mitte der achtziger Jahre war ich Student, und in den Sommersemesterferien fuhr ich mit einem Freund nach Süden. Wir waren Motorradfahrer mit Stil, fuhren Ducati oder BMW, und meine Mutter schlief deswegen schlecht, was ich nicht wusste. Mein Vater hielt unsere Sehnsüchte für gesund. Ich galt als extrem vernünftig, aber niemand ahnte, dass ich mit 180 auf der Standspur überholte, wenn dichter Verkehr herrschte. Einmal schafften wir es in drei Tagen bis nach Sizilien. Wir fanden einen malerischen Ort an der Südküste, hielten es aber in diesem Paradies nicht lange aus. Als wir auf dem Rückweg für zwei Tage in Südtirol hielten, um nicht zu früh zuhause zu sein, kam ich mit einem sehr alten Bauern ins Gespräch. Er verstand nicht, was uns umtrieb. Ich versuchte ihm zu erklären, dass wir die Welt sehen wollten. Da sagte er, das sei doch überflüssig seit es den Fernseher gäbe. Den Fernseher, den fände er viel bequemer als irgendwo selbst hinreisen zu müssen.
Bis dahin war Fernsehen selbstverständlich Inbegriff der Taubheit für mich gewesen, aber dieser Bauer sah mir in die Augen und meinte es ernst. Ich spürte, dass er mir irgendetwas voraus hatte, und wann immer gegen die Medien gewettert wird, fällt mir sein genügsames Lächeln wieder ein. Sein Glück war es, zufrieden in seinem Zimmer sitzen und der Welt zusehen zu können. Warum wird dieses Glück nun so gern verspottet?
„Es ist vor allem das Fernsehen, das uns – wie jeder weiß – seine Fiktionen von der wirklichen Welt als wirkliche Welt aufzwingt,“ schreibt Norbert Niemann anlässlich der Diskussion um Literatur, Markt und Realismus. Und tatsächlich: Wer hat sich nicht schon schwarz geärgert über die immer dämlicher werdenden Sportsendungen, die mit immer weniger Sport auskommen, oder über den Schnitt vor dem Abspann des melodramatischen Spielfilms, der zur Dramaturgie selbstverständlich dazugehört wie der Gang durchs Theaterfoyer und der Nachhauseweg nach dem Genuss eines Stückes. Wer ärgert sich nicht über die Ankündigung der nächsten Sendung innerhalb des heute journals? Das Fernsehen wird in der Tat immer blöder, man verliert immer mehr Zeit, biologische Rechenzeit, mit ihm. Aber zwingt es uns etwas auf? Eine Reise durch die USA ist in dieser Hinsicht wohl ein Blick nach vorne: Das Fernsehen ist dort so schlecht, so langweilig, dass selbst drei Apparate in der Hotelbar niemanden im gepflegten Gespräch stören. Dass der gemeine Amerikaner weniger informiert sei als der gemeine Europäer oder Deutsche kann indessen kaum behauptet werden. Die Fähigkeit zum Filtern des Angebots hat sich offenbar angepasst.
Die richtige Frage des Kritikers ist vielmehr die umgekehrte: Hat das Fernsehen denn nun jenen oft befürchteten Schaden angerichtet, ist es ein Entmündigungsautomat? Die Antwort ist schlicht nein. Die Informiertheit des Durchschnittsbürgers ist mit dem heutigen Fernsehen selbstverständlich höher als ohne. Sie ist mit den Zeitungen selbstverständlich höher als ohne. Sie ist mit einer intakten Verlagslandschaft selbstverständlich höher als ohne. Botho Strauß wies jüngst auf das Verschwinden der sozialen Dialekte hin. Es findet sich kein anderer als ein konservativ romantischer Beweggrund, dieses Verschwinden zu beklagen. Demjenigen, dem heute das Schicksal der Schwächeren am Herzen liegt, kann eine solche Entwicklung nur freuen. Man weiss heute besser Bescheid. Die Polyphonie unserer Medien macht eine Aktion wie derjenige der DVU in Sachsen-Anhalt – man schmiss drei Tage vor der Landtagswahl für einige Millionen Mark Flugblätter über dem Land ab und erreichte dann 18% – weniger möglich: Sie ist die Ausnahme. Die Regel ist die Angst der Herrscher vor dem Fernsehen, ohne Medien hielten sie sich länger. Die Öffentlich Rechtlichen haben das beim Fall der Mauer genauso gezeigt, wie die Piratensender auf dem Balkan oder das Internet in Seattle – so skeptisch man den Verführungsmomenten situativ auch gegenübersteht.
Der also noch immer sehr gute Status Quo unserer Mediengesellschaft bedeutet natürlich keineswegs, dass hier alle Arbeit schon getan und Kritik unsinnig sei. So gehören gewaltverherrlichende Darstellungen, die heute leichter erhältlich sind als früher, selbstverständlich verboten. Auch das Europäische Verbot der Auschwitzlüge, wie Doron Rabinovici es vertritt, bleibt ein vordringliches Ziel. Außerdem muss Qualität in allen Feldern der Publikation weiterhin auf Dauer mit öffentlichen Geldern gesichert werden. Die Bescheidenheit der Fördermittel für Lyriker beispielsweise ist für eine Kulturnation wie unsere ein Skandal.
Aber hinter der Forderung nach einem neuen Realismus wie ihn Niemann einerseits und sein ungenannter Kontrahent Martin Hielscher – Lektor bei Kiepenheuer und Witsch und Protagonist der Forderung nach dem Neuen Erzählen – andererseits vertreten, versteckt sich vielmehr ein und dasselbe Denken, das den Konsumenten zum Objekt abwertet. Hielscher, der gern die „Einschüchterungskultur des Suhrkamp Verlages“ anprangert und vermutlich die selbstbewusste Aura um die Kritische Theorie samt langer Marktführerschaft des Hauses meint, schlägt eben als ein solcher, nämlich Eingeschüchterter zurück. Dabei hatte niemand etwas gegen Unterhaltungsliteratur, die wie eh und je in rauhen Mengen abgesetzt wird, eingewendet: Wegen der Verkaufszahlen von Rosamunde Pilcher ist bei der edition suhrkamp noch kein protestierender Essayband erschienen. Der Hass auf sogenannte schwierige Bücher und Kritiker, die ihre Arbeit machen, indem sie solche Bücher vermitteln wollen, entstammt ganz offenbar einem Minderwertigkeitsgefühl. Man will abwerten, ja, zerstören, was nicht wie man selbst ist. Das ist selbst genuin elitär. Es wendet sich dabei gegen die Wurzeln der Kultur. Denn Kultur haben wir längst als das Gegenteil von Indifferenz und Gleichgültigkeit, ja, Gleichmacherei verstanden. Soviel darf man vom anderen Realismus, dem Real Existierenden schon gelernt haben.
Die Menschen sind halt doch zu verschieden nicht nur in ihren Fähigkeiten, sondern auch in ihren Bedürfnissen. Während für den einen die Talkshow notwendige Bereicherung im unerträglich leeren Zimmer ist, erfüllt für den anderen die Gesamtausgabe von Trakl diese Funktion. Die demokratische Gesellschaft stellt man sich nicht klassenlos vor, sondern in der gegenseitigen Akzeptanz von Mehr- und Minderheit. Günter Gaus spricht in diesem Zusammenhang vom „Recht des Schwachen auf Anpassung.“ Dieses Recht gründet sich in dem Wunsch nach Autorität, der in jedem Menschen vorhanden ist, und ohne welche Kommunikation gar nicht stattfinden kann. Adolf Muschg wies darauf hin, dass beileibe nichts Verächtliches an diesem Wunsch ist. Niemanns Ansicht aber, Ziel der Literatur sei es, „jenseits des massenmedialen Marktplatzes der Realitäten die Welt noch einmal neu zu definieren,“ diffamiert die Massenkultur als dumm, und enthält keinen Respekt vor dem Konsumenten. Dessen Autorität wird negiert und dieser Künstler will befreien, wen er zuerst als unmündig erklärt hat. So ist auch die Forderung nach Macht zu verstehen, die Niemann im und mittels des Forum der „Dreizehn“ versucht zu erlangen. So sympathisch sie in den Ohren des ausgesetzten Künstlers klingt, so wesentlich ist sie der Kunst fremd. Und man darf fragen, warum immer „die Medien“ oder „die Massenmedien“ generell, per se und in toto die schlechten sind. Zu denen gehört ja zweifellos die Literatur selbst. Was unterscheidet sie denn von den anderen? Der größere Aufwand des Konsumenten? Die geringen Herstellungskosten und daraus resultierende größere Unabhängigkeit? Oder die Zwiesprache des einzelnen Autors mit dem einzelnen Leser? Sicher ist es nicht die Natur als Medium, als Instrument der Vermittlung selbst.
Weil wir ohne Medien mit mehr Aufwand weniger Erfahrungen machen würden, deshalb sind sie da. Der alte Bauer in Südtirol, der nie gereist war, wunderte sich jedenfalls nicht, als ich ihm von meinem Unfall zwischen Rom und Neapel erzählte: Ich hatte sehr viel Glück, als ich mit 140 in einen Porsche fuhr, der mich auf einer Bergkuppe überholte. Sein altes Gesicht lächelte milde, er wusste Bescheid, und wahrscheinlich hatte er sich schon der Hoffnung auf einen guten Spielfilm am Abend hingegeben. Auch er wird nicht immer ruhig gewesen sein, aber die Rebellion auf dem Weg zum nächsten Neuen Menschen findet nicht mithilfe des einen oder anderen Ismus statt, sondern an der Stelle, wo die Anbieter nur noch machen, was die Mehrheit angeblich will oder braucht und jeder Charakter verschwunden ist. Der selbstreferentielle Markt, so Muschg, überschlägt sich an diesem double-bind selbst. Er verspottet sein Gegenüber. Das wird die Geburt neuer Götter sein und an deren Bibel wird schon eifrig geschrieben.

© Ralf Bönt