Die Partei der Zweifler

 Eines der anregendsten intellektuellen Spiele des Jahres findet sich immer im Januar auf der website ‚Edge’, wenn Wissenschaftler und Künstler im ‚World Question Center’ auf die Frage des Jahres antworten. 2007 gab es ein veritables religion bashing und so klingt schon die Frage für 2008, welche seiner Meinungen man geändert habe, wie ein erneuter Generalangriff auf die Seligen: Ist die Religion doch der Ort der göttlichen Wahrheit, die sich nicht begründen muss und nicht bezweifelt werden kann. Wenn er einer Partei angehöre, hatte der Agnostiker Camus auch gesagt, dann der des Zweifels. Keine Konfrontation sollte mehr gescheut werden. Die letzte Heimat der Unverzweifelten bleibt dagegen der Glaube. Was ‚Edge’ angeht, wird diese Erwartung jedoch enttäuscht.

      Nobelpreisträger und Physiker Frank Wilczek etwa hat gelernt, dass selbst religiöse Doktrinen, welche den Erkenntnissen der Wissenschaft grotesk widersprechen, diese nicht nur überlebt haben, sondern sogar prosperieren. Dies liege nicht nur an der Loyalität des Menschen gegenüber der Familie, der geografischen Umgebung und das erlernte Denken, sondern auch daran, dass Wissenschaft letzte Dinge nicht zu berühren vermöge. Die Angst vor dem Tod, der Wunsch nach tiefstem Verstehen der Existenz seien stärkste Motive, und an ihnen sei die Technik der Entlarvung der Religion gescheitert.

      Mehr noch: Er habe einsehen müssen, so Wilczek, dass seine eigenen Vorbilder Galileo, Newton und Faraday tief religiös gewesen seien und ihre Religion habe ihrem Intellekt nicht geschadet. Heute mag Wilczek die Religion nicht mehr entkräften, sondern nur bessere Antworten auf die Frage nach der Bedeutung der Existenz anstreben. Eine stark verlängerte Jugend, sehr viele Jahre bei guter Gesundheit, vielleicht sogar eine zeitlich unbegrenzte, seien dabei schon in der Reichweite von nur noch einem Jahrhundert.

      Bedenkt man, dass Wilczek 2007 noch mit der Forderung nach vorsichtiger Wortwahl beim Bezeichnen der Ziele auffiel, dann verwundert der mutige Griff zu diesem Superlativ. Entlarvt sich hier der forschende Charakter, der sich am Denken des immer Neuen berauscht? Kann das ganz Neue, wenn das Neue gerade verblüht, auch mal wie das ganz Alte aussehen? Das Alte im Gewand des Neuen trifft man tatsächlich öfters im ‚World Question Center’ an.

      Erfrischend klare Worte findet zum Beispiel der junge Neurowissenschaftler Sam Harris für seine frühere Auffassung, dass die Natur weise sei, und die Gentechnik auf riskante Weise damit spiele. Heute hält er diesen romantischen Gedanken für eine so blamable wie gefährliche Mythologie. Schon der Einschlag eines großen Meteoriten, wie er alle hundert Millionen Jahre vorkommt, lösche fast alles Leben aus und beweise, dass Mutter Natur alles mögliche im Blick haben möge, nur gewiss nicht uns. Spezielle Arten lebten eh nur zwischen einer und zehn Millionen Jahre. Deshalb sei es nicht riskanter, in den Lauf der Natur zum Zweck unserer Optimierung einzugreifen, als sich ihr blind zu ergeben. Unsere Mängel seien ja offenkundig, nicht einmal eine globale Zivilisation des 21. Jahrhunderts seien wir in der Lage zu bilden. Dieses vormoderne, vom Kampf gegen die feindliche Natur geprägte Denken klingt plötzlich ausnehmend vernünftig, und nicht nur Autoimmunkranken dürfte es runter gehen wie Butter mit Honig.

      Dieser überfällige Paradigmenwechsel zeigt, wie wichtig der Zweifel ist. Schließlich muss und wird man sich fragen, wie es überhaupt zu einer so ausufernden Verklärung der Natur kommen konnte, dass noch das Klima oft als krank galt und man sagen konnte, es benötige vom Menschen rettende Hilfe. Wer seine Wohnung vermüllt bis Nässe, Maden und Pilze das Kommando übernehmen, kommt ja auch kaum auf die krankhaft herablassende Idee, zu behaupten, die Wohnung benötige ihn. Selbst die Atomkraft, soweit kann man sich nun vorwagen, wäre mit der Einsicht, dass Mutter Natur sich nicht um uns kümmern werde, vermutlich leichter zu bekämpfen gewesen. Denn wieso ist eine so offenkundig unökonomische weil unokölogische Technik eigentlich noch immer so vital, dass sie gegen alle Argumente besteht und sogar militärische Konflikte auslösen kann? Mit anderen Worten: Grünes Denken, nennen wir es ab heute altgrünes Denken ist oft auch nur ideologisch, und zudem überholt.

      Der Wikipedia-Kritiker Jaron Lanier, hat den Menschen ebenfalls normalisiert. Er ist neuerdings für den Einsatz Virtueller Realität zur Behandlung von posttraumatischen Störungen. Zwar haben schon früher Jongleure virtuell bei unrealistisch niedrigem Tempo einen  neuen Bewegungsablauf erlernt, bevor sie die Geschwindigkeit langsam der realen anpassten, um dann ihr Publikum zu verblüffen. Lanier habe aber gedacht, dass die Persönlichkeit sich vor virtuellen Erfahrungen schütze, indem sie diese getrennt von realen aufhebe. Das war falsch, und die Behandlung der psychischen Krankheiten von Irakveteranen sei heute nicht mehr ohne das Durchspielen von Situationen auf verschiedenen Realitätsniveaus denkbar.

      Wie eine Schule des Neuen Skeptizismus liest sich die anregende Sammlung weiter. Mancher bleibt dabei eng in seinem Fachgebiet: Lisa Randall konnte sich erst nicht vorstellen, dass Neutrinos sich miteinander vermischen, Daniel C. Dennet glaubt nicht mehr, dass die Aktivität von Neuronen in letzter Konsequenz wie Schaltkreise eines Computers funktionieren, sondern wie egoistische Zellen, die sich im Wettbewerb um Energie durchsetzen wollen.

      Bestsellerautor Richard Dawkins war sicher, dass eine körperliche Benachteiligung wie der lange und deshalb unpraktische Schwanz des Fasanenhahns oder sozial aufwändiges Verhalten wie das altruistische Füttern schwacher Glieder des Sozialverbandes bei arabischen Kleinvögeln nicht von evolutionärem Vorteil sein können. Die Theorie, dass das Handicap durch den sozialen Vorteil des Individuums mehr als aufgewogen werde, weil das Vorzeigen der größeren Fähigkeiten die Weibchen beeindruckt und höhere Reproduktion nach sich zieht, schien ihm unplausibel. Der vererbte Nachteil würde sich auf Dauer, da eben Nachteil, nicht durchsetzen. John Maynard Smith hatte auch erfolglos nach einem mathematischen Modell gesucht, das Nachteile und Vorteile so abbilden konnte, dass der Vorteil der Protzerei überwog. Alan Grafen fand jedoch das Modell später, und die Theorie gilt heute als richtig: Sinnloser Luxus zahlt sich sexuell aus.

      Der Psychologe Steven Pinker glaubte die Evolution des Menschen seit zehntausenden Jahren am Stillstand oder zumindest für so langsam, dass wir sie nicht beobachten können. Dabei hielt er uns nicht fit für eine moderne Gesellschaft mit anonymen Menschenmassen, das geschriebene Wort oder einen Gerichtssaal. Neueste Ergebnisse lägen zwar nahe, dass bis zu 10% der Gene in den letzten paar tausend Jahren eine starke Selektion erfahren haben. Da Kinder aus unterentwickelten Ländern ohne jedes Problem in einer technisierten Welt aufwachsen könnten, seien die Veränderungen aber nicht gewaltig. Pinker hat sich offenbar nirgends grundlegend getäuscht.

      Der Biologe Rupert Sheldrake glaubt ohnehin, dass Skeptizsmus nicht zur Wahrheitsfindung eingesetzt wird, sondern als Waffe zum Behaupten der eigenen Version. Nicht nur unter Wissenschaftlern könne man beobachten, wie Skeptik benutzt würde, um die Argumente des anderen zu verwässern und zu diskreditieren. So würde jede geäußerte Skeptik nur den eigentlichen Glauben stärken wollen. Konsequenterweise sei der Skeptizismus in der Religion noch stärker als anderswo – die Reformation habe die gesamte Kraft der biblischen Lehre und des kritischen Denkens gegen überholte katholische Praktiken eingesetzt – und nur Atheisten setzten den religiösen Skeptizismus ins Ultimative. Sie verteidigten dabei nämlich nur ihre eigene Religion: die Wissenschaft. Man sollte, so Sheldrake, skeptischer mit dem Skeptizismus umgehen, denn je militanter der Skeptiker, desto tiefer sein Glaube.

      Und tatsächlich, hatte Steven Pinker nicht behauptet, wir seien der Schrift nicht gewachsen? Sam Harris hatte sogar gesagt, wir seien nicht fit für das 21. Jahrhundert. Aber haben wir etwa nicht das FCKW-Problem gelöst? Sind SARS und H5N1 etwa tötend um die Welt gezogen wie zu Zeiten unserer Großeltern die spanische Grippe A/H1N1? Wählen die USA nicht grad den Machismus ab? Es ist etwas passiert, dass es soweit kommen konnte.

      Der geläuterte Exmaoist Brian Eno geht so weit, die EU als das wegweisende politische Experiment unserer Zeit anzusehen, eine Regierung also, die langsam ist, bürokratisch, endlos debattierend in den entlegensten Fragen, mit anderen Worten: extrem unglamourös. Wir  seien, so Eno, am Übergang vom revolutionären zum evolutionären.  Am  Klima werden wir es erneut beweisen müssen.

      Derweil ist es gut möglich, dass Frank Wilczek recht behält mit der großspurig klingenden Annahme, man werde in nur hundert Jahren eine völlig veränderte Lebenserwartung haben. Richard Hanson von der Universität Cleveland hat nämlich eine Maus gezüchtet, die bis zu zehnmal mehr Mitochondrien in den Zellen hat als normale Mäuse. Diese Maus rennt sechsmal länger im Rad, sie frisst doppelt soviel und, — nein, sie stirbt nicht früher. Ihre Lebenserwartung ist anderthalb mal so groß. Natürlich ist die Übertragung auf den Menschen oder auch nur den Radprofi noch nicht abzusehen. Aber wenn das erledigt ist, wird es zu einer weiteren Zivilisierung kommen. Denn wie schon seit Beginn der modernen Medizin triggert das wertvollere Leben die Sorgfalt im Umgang mit ihm. Es bleibt dann nur noch eine andere Frage: Wieso man nicht hundert Jahre später auf die Welt kommen durfte. Keine Angst also, die Verzweiflung wird bleiben.

© Ralf Bönt