Die Säulen des Herkules

Rezension zu H. Mulisch:
Die Säulen des Herkules

Edition Akzente,
herausgegeben von Michael Krüger; Carl Hanser Verlag


Gesellschaften nach dem Referential-Verlust präsentieren Kultur als Ranküne, wie Ranküne als Kultur: leichenschänderischer Trieb aus Ressentiment gegen den toten Vater, eistiges Maß und Ideal.“ schreibt Reinhard Jirgl mit Blick auf die Gegenwart. Zusammen mit der vermeintlichen Utopie sei gleich jedes „Denken des Unmöglichen“ diskreditiert, auch wenn genau dieses der „Antrieb der immanenten Entwicklungs- und Vollendungsmotorik“ ist.
Wie gerade zur rechten Zeit erscheinen da die Essays von Harry Mulisch. Der vorliegende Band, der im Deutschen größtenteils unveröffentlichte Texte aus den Jahren 1983 bis 1995 präsentiert, beginnt auch gleich damit, Das Buch zu suchen, und zwar nicht, Das Buch – gegen den Fernseher oder Computer womöglich, nein: das handelt er mit einem Halbsatz ab – sondern Das Buch: Man müsse beim Versuch, so etwas konkret werden zu lassen, wie Orpheus scheitern, der glaubte Euridyke aus der Unterwelt zurückholen zu können – „um von Jesus Christus gar nicht erst zu reden.“ Dennoch hat das Superbuch, anders als der in der Zeitlichkeit wurzelnde Roman, die Ewigkeit und das Nichts zu evozieren. Mallarmé hinterließ z.B. mit seinem grandiosen Fiasko des „Livre“ ein solches Dokument des Scheiterns. Es müsse am Ende schon immer beim Buch mit den sieben Siegeln bleiben: „Wenn wir >> das Buch << Wirklichkeit werden lassen, dann wird alles vernichtet werden; und wenn wir vergessen, wo es ist, dann auch.“ Nur der Abglanz sei erlaubt, und der sei die Schönheit: Die fatale Schönheit, die häßliche Schönheit und die Häßlichkeit, sowie die fatale Häßlichkeit, das heißt die Schönheit in der Häßlichkeit ist da zweifellos mit gemeint.
Zeigt dieser Auftakt Mulisch bereits als Medialisten gesonderter Kategorie, so heißt es in den „Bausteine(n) der Mythologie des Schriftstellertums“: „Aufgrund der Erfindung der räumlichen Schrift kann der Geist durch die Zeit reisen.“ So gesehen ist die Erfindung der Schrift wichtiger als die des Rades, da durch den Raum bereits Tiere kamen. Das nur gesprochene Wort dagegen bleibt, von Ausnahmen abgesehen, reine Zeitlichkeit. Die Zeit Überwinden aber heißt den Tod Überwinden, das orphische Motiv, deshalb weiß der Schriftsteller nicht, was er zu sagen hat bevor es Papier ist und das gelte auch für den engagierten: die Unmöglichkeit des Exposés anhand des Primären. Zwischen dem Schreiben und dem Nicht-Schreiben fließt somit der Lethe. Mit diesem auf den ersten Blick vielleicht akademischen Klang aber nicht genug, die „Theorie“ weitet sich, über einen Exkurs zur Unfehlbarkeit des Papstes, die jeden Schreiber prinzipiell erfreue, zu der Frage, wie lang die Linie aller vom Autoren jemals gelesenen Worte würde, zöge man sie an den Enden zu einem geraden Strich auseinander. Und wie groß die Schweiz, glättete man sie zu einem Niederlande und umgekehrt, wie klein die Niederlande, zerknitterte man sie zu einer Schweiz.. ? – Hat man schon gehört, daß die Niederlande sich circa zweimal täglich um mehrere Zentimeter heben und senken soll, so ist dies sicher der Grund für den dortigen tanzenden Humor!
Mulischs Verfahren der polemisch aufgeladenen Argumentation überzeugt auf seine Weise auch in „Das Licht“: Sowohl gegen die Postulate des New Age eines Fritjof Capra wie auch gegen dessen mit kühlem Hohn vorgehende Kritiker wendet Mulisch ein, daß die Moderne Physik sich nicht auf östliche Weisheiten gründet, sondern ganz offensichtlich auf genuin westliche. „Es werde Licht“ sei schließlich Ursprung der Religion unseres Kulturkreises und es – das Licht -finde sich nicht nur als treibende Erscheinung in der Wissenschaftsgeschichte der Relativitätstheorie, sondern auch derjenigen der Quantenfelder wieder. Es sei schon ein böses Versäumnis des Ostens, die Moderne Physik nicht formuliert zu haben, wenn sie seit jeher in seinen Schriften verborgen gelegen hätte: Da steht es schon 1:0 für Mulisch sowohl gegen Capra, wie gegen die gängige Kritik an diesem, die meist bloß den Stempel der Esoterik ausstellte und arrogant über die Sehnsucht wegsah, die Capras Erfolg zugrunde lag. Mulisch dagegen zeigt, daß die Ideen so originär meist nicht sind, wie sie scheinen.
An die Grenze der Verwendbarkeit physikalischer Theorien gelangt Mulisch hier aber auch: Ohne sich auf Formeln stützen zu können, versagt sehr bald die Sprache. Möglich, daß verschiedene Sprachen sich da verschieden benehmen, im Deutschen aber sind schon die Lorentz-Transformationen der Speziellen Relativitätstheorie nicht in Sätze mit einwandfreier Semantik zu bringen, jedenfalls nicht auf die Schnelle. Ob es zu diesem Problem der dem Medium zugrundeliegenden Logik eigentlich Forschungsprojekte gibt? Bei einem Satz wie „Licht ist zeitlos.“ Sollte es jedenfalls nicht bleiben, da der – über die Tatsache der notwendigen Grenzbegehung hinaus – niemandem wirklich Mitteilung machen kann.
Sahnestück im Villenviertel von Harry Mulisch ist zweifellos der auf knapp 40 Seiten umfangreichste Text der Sammlung mit dem schlichten Titel „Das Eine“, flankiert vom kürzeren „Mihn“. Als Exkurs über die Wahrheit wird zunächst in veritas, die Wahrheit, und verum, das Wahre unterschieden. Beide sind durch Einfachheit ausgezeichnet und Mulisch entwirft ein Theaterstück, das auf der historischen Tatsache beruht, Churchill habe vor der Bombardierung Coventrys am 14. November 1940 die deutschen Pläne gekannt, aber nicht reagiert, weil man dann in Berlin gewußt hätte, daß der Feind mithören kann und England seine beste Waffe im Krieg aus der Hand gäbe. Diese historische Tatsache ist allerdings umstritten, also eventuell unwahr, das Stück hat jedoch -bereichert um die in der Stadt anwesende Familie des Oberbefehlshabers und solange es gut geschrieben ist – zweifellos etwas wahres, man sortiere es unter verum. Könnte man jedoch in der Zukunft einmal Bilder aus der Vergangenheit empfangen, ganz so, wie aus Fossilien Fakten rekonstruiert werden oder aus der Hintergrundstrahlung die Vergangenheit des Universums, und so sehen, wie Churchill nach Beratung entscheidet, dann kann zwar die Empirie eines historischen Faktums hergestellt werden, aber noch lange nicht die Historie selbst: Zu einer abschließenden Erklärung des Krieges und seines Verlaufs kommt man so nicht, ohne Auswahl der Fakten und das heißt ohne Ordnung im Chaos.
Daß der Mensch schließlich überhaupt in der Lage ist, Ordnung von Unordnung zu unterscheiden, sei unbegreiflich, daß er aber dann auch Ordnung im Chaos suche, noch mehr. Und warum sucht er nicht Unordnung in der Ordnung? Der Eingang der Logik und Mathematik ins menschliche Denken habe etwas himmlisches im nichtreligiösen Sinne des Rational-Wissenschaftlichen. Und da an jedem Anfang einer Theorie die Intuition steht, ist dies das Musische. So sind Kopernikus, Newton und Einstein die größten Ästheten und haben, über jeden tradierten Faltenwurf hinweg, mit Künstlern alles gemein. Auch wenn der eine das Abstrakt-Eine als veritas sucht, und der andere das Konkret-Eine als verum: Der Schriftsteller arbeitet zu keinem Zeitpunkt abstrakt, sondern beginnt im Konkreten und bleibt im Konkreten, er tut während des Gelingens intuitiv immer das richtige und hält am Ende das Besondere als Allgemeines in der Hand. Alles andere seien blutlose, sozialistisch-realistische (an anderer Stelle: sozial-realistische) Mißgeburten einer Poetik, die vom Schreiben keine Ahnung hat.
Das Buch schließt mit einer profunden Analyse des postsowjetischen Nationalismus, um sich dann – nach der Frage, wie ratlos wir vor dem Nihilismus eigentlich schon sind – auf schrill lachende Weise doch zur Utopie zu bekennen: „Schriftsteller, Verleger, Buchhändler, Leser aller Länder, vereinigt euch!“ Erinnert man sich der hiesigen Debatten um Narration und Markt, dann atmet man bei dieser Lektüre Mulischs – Autor so erfolgreicher Romane wie „Das Attentat“ und „Die Entdeckung des Himmels“ – durch. Der Körper seines Denkens hat sich an der Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgebildet und stellt leichten Fußes sein Referentialsystem dar, dessen Zentrum „Das Eine“ und sein Scheitern daran ist. Für den Sprung über 2000 ist es ein Dokument, das vor allem jungen Generationen dienen kann.

© Ralf Bönt