Das war die BRD
Wichtig war, dass man mit der neuen, tiefblauen Jeans, die nicht nur bei Plenzdorfs jungem, leidenden W. hauteng sein musste, als erstes in die Badewanne gegangen war. Sie musste sich der Form des jeweiligen Beckens anpassen. Mit angehaltener Luft, auf Zehenspitzen und gegebenenfalls unter Mithilfe von Geschwistern bewältigte man den Reißverschluss und den Knopf, bevor die Hose im Wasser etwas nachgab und die Ohnmacht gerade noch verhinderte. Im Alter, sich Weichteile zu quetschen, war man noch nicht.
War die Badewanne die Pflicht, so trennten Fortgeschrittene in der Kür die äußeren Nähte ihrer Hose auf und fügten Dreiecke aus buntem Stoff ein. Hier konnte man sich blamieren, wenn der neue Stoff etwa zu weich war und von der schweren Jeans einfach weggefaltet wurde: Hosenbein und noch unsicheres, weil unbegründetes Lebensgefühl fielen gleichzeitig in sich zusammen. Wer aber soweit gekommen war, musste sich der todernsten Hose grundsätzlich stellen. Sie hatte, wie sich das für Devotionalien gehört, zwar ein Vermögen gekostet, dafür gab es aber nur wenige Maße und auf keinen Fall die richtige Länge. Die Transplantation schloss daher immer mit dem Kürzen ab.
Es gab dabei viele Wege des Scheiterns: Ganz schlimm waren diejenigen, die ihre noch tiefblaue Wrangler an den Knöcheln einfach so oft handbreit umkrempelten, bis die Länge stimmte. Deren Mütter hatten wenig cool darauf bestanden, dass die Hose erst ein paar Mal getragen und gewaschen wurde, bevor man sie kürzte, denn sie lief ja vermutlich noch ein, der Webrichtung der Baumwolle nach vor allem in der Länge. Das Ergebnis waren mehrere Wochen voll Spott oder, schlimmer, Missachtung mit den sperrig abstehenden Hosenbeinen, wobei noch dazu kam, dass je kleiner man war, desto ungelenker das Hosenbein sich kaprizierte. In der Krempe sammelte sich zudem der Dreck, er stieß nur knapp unter Knöchelhöhe einen Rand in den Stoff. Oft blieb dieser Rand auch nach dem finalen Abschneiden und Umnähen noch sichtbar, und der oder die Unglückliche war auf die Lebenserwartung der Hose stigmatisiert: Keine Spur von der Größe Amerikas, vielmehr erste Zweifel.
Natürlich gab es damals noch Mütter, die ihre Liebe an der Nähmaschine bewiesen. Sie bezahlten in diesem Fall mit mindestens drei teuren Nadeln, denn immer, wenn man über die dicke Seitennaht musste, brach eine ab. Die Mütter hielten gewohnt klaglos durch, verwendeten aber meistens nicht den richtigen Oberfaden, den gab es offenbar nicht. Sie nahmen, als ob das komplett egal gewesen wäre, blau oder weiß, so dass jetzt billig und wie von Mutter aussah, was an sich aus Amerika hatte sein sollen. Und dass die nähende Mutter dieses Amerika nicht mal beim Kürzen der Wrangler imitieren konnte und wir mit verpfuschten Hosen rumliefen, wenngleich mit liebevoll verpfuschten, spätestens das war der Beginn unseres gestörten Verhältnisses zu Deutschland.
Aber es konnte noch heftiger kommen: Wenn die geliebte Wrangler aus dem gelobten Land mit der falschen Naht überm Schuh doch noch einlief, dann war mit dem Hochwasser die Katastrophe perfekt. Denn kein Elternpaar der Siebziger gab wegen zwei fehlender Zentimeter eine derart kostenintensive und amerikanische Hose auf, der Ruf des Kindes musste dran glauben. Schlimm traf es die Kinder der Reichen, denn die hatten die ersten Wäschetrockner angeschafft, was das Einlaufen auf schier unbegrenzte Zeit fortsetzte. Der Rufmord wurde in diesen Fällen schleichend gesteigert, viel zu spät trieb man den Geräten diese Kinderkrankheit aus.
Richtig cool, kommen wir jetzt mal dazu, waren diejenigen, die ihre Jeansbeine einfach mit den Hacken durchliefen. Das überstehende Stück fiel dann zur Hälfte ab, der Rest wurde mit der Hand bei Gelegenheit weggerissen. Das Ende blieb auch mit den im Prinzip weißen Fransen, die den Dreck der Straße in Schulklasse und bürgerliches Heim trugen, auf ewig lässig. Von denen kriegte man Dope, dass wir hinter der Kirche rauchten, um sagen zu können: Mann, bin ich breit. Dazu wurde nach sehr verhaltenem Beginn, kurz aber derbe geknutscht.
Zu dieser Zeit wurde die Sache aber schon industrialisiert. Die Kaufhäuser begannen, die Kürzung als Dienst anzubieten. Es kamen die Jacken von Wrangler dazu, jetzt hatte man das W auch auf der Brust, wenn man wollte. Kurz darauf erfuhren wir dann, das eigentlich Levi’s die Marke wäre, welche, obwohl der Bayer Levi Strauss mit den Stoffen eigentlich etwas anderes vorhatte, und nur aus Ratlosigkeit Hosen nähen ließ. Irgendwo lasen wir, dass die Jeans ihren Namen aus Genua hatte, dem ehemaligen Handelszentrum für Hanf, was bis zur Ächtung der Pflanze den Hosenstoff abgab. Die Genueser, begriffen wir, war also viel weniger amerikanisch als eigentlich unecht.
Wir begriffen aber auch stückweise, was die Herkunft bedeutete: Für die Schokoladenwelt dieses weit entfernten, beharrlich rätselhaften Landes wurden die Eltern noch, als sie Kinder waren, von den Großeltern durch mitteldeutsche, nächtliche Wälder gescheucht, mit einem Rucksack auf dem kleinen Rücken und voll grausamer Angst vor der russischen Patroullie, erzählte der Opa. Später hatten sie mal auf einem amerikanischen Panzer mitfahren dürfen, erzählte die Oma. Sie kam von jenseits der Oder oder der Neiße, von der wir nicht ahnten, wo sie liegen könnte, abgesehen davon, dass irgendwie schon klar war, sie lag jenseits von Gut und Böse. Gemessen an dieser Neiße, komischer Name für einen Fluss auch, war Amerika nur ein Negerlächeln weit weg, nur das Amerika die Neger und manch andere nicht behandelte, wie die Eltern verlangten, dass wir Kameraden behandeln sollte. Die Zweifel nährten sich nun.
Aus Protest gegen die vieldeutige Welt und die mittlerweile dreißigjährigen 68er nähten wir die Hosenbeine deshalb jetzt ab, sie mussten hauteng noch an der Wade sitzen, und wie man in die Hose noch rein kam: egal. Unsere Eltern kuckten sich Aufzeichnungen der Mondlandung an, wir fanden die Fahne da oben sei Umweltverschmutzung. Neuerdings lasen wir Che Guevara, den wir aus der Schulbibliothek geklaut hatten, und ziemlich schlagartig wurde uns klar, was für eine tote Materie wir waren. Wir wollten das Abitur noch schnell fertig machen, und dann Handwerker werden, nämlich Tischler. Neben der Ehrlichkeit dieser Arbeit freuten wir uns auf dieses natürliche Material und färbten schon mal die billig eingekauften Latzhosen bunt, die jetzt den Platz der in Ungnade gefallen Wrangler einnahmen. Es dauerte den ersten Lehrtag und wenige Blicke der neuen Kollegen lang, bis wir die gesteigerte Mutlosigkeit dieser Geschichte begriffen.
Die Lehre brachen wir in der Probezeit ab. Es hatte keinen Sinn, jeden Morgen um sechs aufzustehen, um acht Stunden lang Kunststofffenster in Neubauten passen zu können. Wir schrieben uns für Psychologie ein. Nach drei Semestern wechselten wir zur Pädagogik, weil die ganze Statistik echt scheiße war in Psychologie, wir wollten ja was über den Menschen lernen. Wir wählten grün. Das Bootleg kehrte zurück in die Jeanswelt der halben Vernunft. Es dauerte einen Transatlantikflug nach dem endlich abgeschlossenen Grundstudium lang, bis wir die wieder akzeptablen Hosen erst Liehwaihs zu nennen anfingen und dann gar nichts mehr zu ihnen sagten, weil die Doktorarbeit derlei Probleme in den Hintergrund schob. Dass mit erhöhten Passagierzahlen zwischen der BRD und New York auch passende Längen in den deutschen Läden erhältlich waren, nahmen wir so unauffällig zur Kenntnis, wie das Verschwinden der Levi’s mit Webfehlern, die immer noch viel mehr gekostet hatten, als wir längst am Broadway für unsere Jeans bezahlten. Wir fingen an, markenlose Jeans für 15 Dollars bei Wall Mart zu kaufen, wir sagten: for fifteen bucks.
Wir hatten mittlerweile Ausdruck im mündlichen und schriftlichen, über den unsere Eltern staunten. Wir hatten die Grenzen der Träumerei erkannt. Wir schulten auf Computer um, denn Arbeit war knapp im Land von Helmut Kohl, den unsere Eltern gewählt hatten und alle Ossis. Mit einem Computerjob könnte man vielleicht das halbe Jahr auf Gomera verbringen, wo die ganzen alleinerziehenden Mütter den Winter abwarteten, und wo man beim Rumsitzen Benzin sparte. An den Wochenenden fuhren wir nach Berlin und diskutierten, dass es besser wäre, Bonn würde Haupstadt bleiben, dann bliebe Deutschland auch weiterhin Provinz und die Mieten in Berlin auch noch unten.
Wir zogen in den Prenzlauer Berg und maulten über die skandalösen Berliner Winter. Nachdem wir für einen Augenblick die Jeans gegen Anzüge getauscht hatten, weil immer denselben Rebellen spielen ist konservativ, und die Bank, die einen mittelmäßig bezahlten Job anbot, aber immerhin, zog Anzug eh vor, danach also sahen wir, wie wir mit amerikanischen Freunden, die die besten Subkulturen der Welt haben, unzivilisiertere Teile Europas bombardierten. Flüchtlinge starben an Grenzen, die niemand kannte, und auch die BRD war jetzt tot. Noch immer hatten wir große Zweifel. Als die Jüngeren den Markenfetischismus als integratives Element der rückwirkenden Generationenbildung beanspruchten, überließen wir denen das neidlos. Dann sagten wir, leger gekleidet, der neuen Geliebten das vorübergehende Jawort. Die Wrangler tauchte in der Technoszene wieder auf, weil die ganze Mode der Blumenkinder schon durchzitiert war und zu langweilen begann. Jeder von uns lächelte im Vorbeigehen jetzt voller Verständnis.
© Ralf Bönt