Ein Ort, eine Zeit, ein Bericht.

2. Januar. Silvester in Berlin auf dem Dach gefeiert, wie immer fröhliches Frösteln zwischen Fremden. Neujahr bin ich los, nachmittags, 16 Uhr. Hotel ausgerechnet in Wörgl. Heute dann Mittagessen in Brixen, noch nie war ich da im Winter. Später aus den Alpen und der Jahreszeit raus, an Florenz vorbei wie an einem anderen Leben, schließlich an Rom vorbei, dann das beschriebene Schild, Neapel 180 km. Kurz drauf die beschriebene Abfahrt in ein neues Leben. Der Ort liegt auf 650 Metern, und über ihm thront die Casa Baldi, auf einem zweiten Hügel liegt eine Burgruine. Niemand war da, ich musste zurück zum Busbahnhof, hinten um dem Hügel herum und durch einen Tunnel, telefonieren. Keine Zelle funktionierte, auch 2004 ist Italien sich noch treu.
Junge Männer in Posen an Ecken mit Blicken. Schließlich erreiche ich die Massimo aus einer Bar heraus, sie geben mir die Nummer der Hauswirtschafterin, ich fahre wieder hoch, das automatische Tor geht auf und im ersten Gang geht’s bis zum Parkplatz. In der Wohnung schließlich. Man kann einmal im Kreis gehen, groß. Unaufdringlich eingerichtet. Kamin. Sehr weiter Blick, was man jetzt im Dunkeln an den Lichtern in der Ebene sieht. Das Bier aus dem Auto geholt. Füße hoch. Endlich mal was angemessenes. Das hier wird gut.
 12. Januar. Die erste Woche nur gearbeitet. Das Stück durchgeschrieben und weggelegt und den Bericht angefangen. Wenn der Schlaf sich morgens aufrichtet, mit den Flügel schlägt und mit einem kurzen Sprung und ohne sich umzudrehen abhebt und davon flattert und dann in die Weite gleitet, sehe ich an die Decke und denke an den Bericht. Der Bericht wird die Höhe. Ich muss mir im Klaren sein, dass überhaupt nichts zu erwarten ist. Der Bericht ist nur für mich.
   13. Januar. Die große der beiden Katzen macht ständig Gesichter. Sie spricht im Sehen und sie sieht alles. Ich habe sie den Direktor genannt. Eine Malerin, die oben in der Villa Serpentara arbeitet, rief an, ebenfalls sehr angetan vom Ort. Hatte eine mehr als angenehme Stimme.
    18. Januar. Das Licht kommt hier von unten, vom Meer her, das man manchmal in der Ferne genauso zu sehen glaubt wie die Kuppel vom Petersdom. Der Himmel ist alle halbe Stunde neu: Klar, dann lustig bewölkt, dann dunkel oder es zieht plötzlich Nebel von einer Seite herein, dann wieder klar. Man sollte mehr Zeit auf dem Land verbringen, man kann hier besser loslassen, weil mehr Platz ist, man wird nicht ewig belagert wie in Berlin. In Rom war ich allerdings auch, so lässig monumental hatte ich es nicht in Erinnerung. Wie fixiert wir in Deutschland doch auf das 20. Jahrhundert mit seinen Hoffnungen noch immer sind. Das wird noch sehr teuer für uns, und eher als wir uns vorstellen können.
 3. Februar. Es ist kälter geworden. Es hat eine ganze Woche gewittert, dann fiel Schnee, was den Ort sanfter machte. Der Bericht scheint abends immer fertig, aber morgens fällt mir was Neues ein. Dabei ist er jetzt schon viel zu lang. Der Direktor geht ein und aus, hat sich an mich gewöhnt. Gestern war ich in der Villa Serpentara bei der Stäglich, einer Malerin aus Berlin, die Quadrate aus Farbfeldern malt, Fensterblicke. Drei, vier hängen nebeneinander oder neun wieder im Quadrat. Blickt man in Fenster eher hinein als heraus? Wenn ich die Augen schloss, sah ich statt ihrer Figuren jedenfalls Kinder am Tisch sitzen und quasseln, durcheinander rufen, mit Gabeln fuchteln, streitbereit, sich auf Süßes freuen. Ich höre die reden, sagte ich der Stäglich, die dafür ein zu ihrer Stimme passendes Lächeln hatte. Zur Überprüfung sah ich die Bilder länger an und schloss die Augen noch mal, jetzt saßen alte Leute am Tisch und äugten, eine alte Frau mit bitterem Mund und runden Schultern, eine andere ganz schwatzhaft und aufspringend vor sinnlosem Glück. Landschaften für sich. Stäglichs Farbflächen dabei pure Lust, die Gewalt ist in den Linien.
 23. Februar. Bruno war da mit Anne und Victor, ist schon wieder weg. Gestern dann Julia, Ulla und Christian, schon wieder der letzte Besuch. Ich hatte einen Lammrücken gekauft und nach dem Wiegen hatte mir die junge Fleischerin mit einem weiteren Stück in der Hand zugenickt, um Zustimmung fragend. Ich nickte der Einfachheit halber und aus Höflichkeit zurück, und als ich zuhause mit Julia das Papier aufschlage, sieht uns das Auge eines halben, aber sonst vollständigen Kopfes an, der äußerst sauber an der Längsachse von der anderen Hälfte gesägt worden war. Herumgedreht schlägt uns der ungewohnte Geruch des halben Gehirns entgegen, weshalb ich den Kopf in die Wiese trage, der Direktor aufgeregt hinter mir her, aber als er meine Unsicherheit bemerkt, lässt er von mir und dem Kopf ab und ich stehe mit dem Kopf in der Hand allein am Zaun. Zurück in der Küche hat Julia den Rücken zerlegt. Ein schönes Stück Lamm, sagt sie.
 12. März. Der Bericht ist fertig, ich erhalte entweder keine Antwort als betretenes Schweigen oder man sagt: Erschütterndes Dokument. Dazwischen zwei Erzählungen und einen dreiviertel Essay geschrieben. Ich war noch nicht in Neapel.
22. März. Es wird jetzt tagsüber schon recht warm. Öfters durch Rom geschlendert und an der Kindlichkeit der Italiener erfreut. Wir machen noch eine Ausstellung und Lesung hier draußen, dann fahre ich mit der Stäglich über Florenz und München nach Berlin, wo man an den Sommer denken darf.

© Ralf Bönt