Essen

Wenn du herein kommst, ist der Fernseher über deinem Kopf, und du kommst direkt von der Kreuzung, wo es passiert ist: Eine Hauptstraße, Ecke Seitenstraße, mit Ampel, und der Lastwagen soll grün gehabt haben, aber das konnte nie geklärt werden. Eine Ecke wie die gibt es Tausende in einer Großstadt, oder es gäbe Tausende und wieviel Tausend eigentlich, wäre nicht der Eingang zum Imbiß um fünfundvierzig Grad gegen beide Straßen gedreht, aber vielleicht gibt es auch solche abgeschrägte Hausecken an Straßenecken Tausende oder Zigtausende. Du kommst also direkt von der Kreuzung, gehst unter dem Fernseher durch und gleich verdrehst du dir den Hals, weil deine Augen natürlich Cem suchen, der irgendwo hinter dem längs durch den ganzen Raum verlaufenden Tresen sein muß, aber die laufenden Bilder behaupten sich auch ungesehen, durch unterlegten Ton, und du mußt erst mal hinkucken: heute Fußball. Heute guter, türkischer Fußball, du starrst eine Minute: athletisch ist er und technisch, gut.
       Weiter hinten an der Theke Betrieb. Zigarettenqualm, laute Männer, arme Kerle. Mittendrin ist auch Cem mit dem unvermeidlichen Lappen in der Hand, und seine gute Laune ist da, wo bei anderen die politische Überzeugung wohnt: „Hallo Nachbar, komm gleich.“ Mit einem Handzeichen bedeutest du ihm: keine Panik.
Cem: „Aber setz dich, Herr Professor. Oder zum Gehen?“
Du verneinst, setzt dich, legst die Zeitung auf den Tisch, schlägst sie auf, drehst dich aber zum jetzt schräg halb hinter dir plärrenden Fernseher. Ein aufgezeichnetes Spiel, ohne Angabe der abgelaufenen Spielzeit, als ob in einem Spiel nicht alles davon abhinge, dass es genau neunzig Minuten dauerte und damit ganz anders als das Leben sei.
„Heute lecker Dönerteller, mein Freund?“
Das breite Gesicht von Cem, falls er so heißt wie der Imbiß, ist ein Anker in deinem Tag. Mit schnellen, so entschlossenen wie leichten Bewegungen putzt er sich von hinten nach vorne, rechts den Lappen, mit der linken Aschenbecher, Ketchupflaschen, Teegläser anhebend und wieder hinstellend. „Heute sehr lecker Dönerteller.“ Cem wartet auf eine Antwort.
Du drehst dich vom Fernseher weg zu ihm hin: „Wie immer doch.“
„Aber heute ganz besonders lecker für ganz besonderes Nachbar.“
Du nickst, blätterst in der Zeitung, im Wirtschaftsteil ehrlich gesagt lustlos.
„Mach ich Fernseher leise, warte.“
Er steht mit der Fernbedienung in der rechten Hand eine Sekunde, die linke Hand in den Rücken gestützt, noch eine Sekunde, du suchst in der Wirtschaft nach einem Artikel, aber keiner sieht nach Neuigkeiten aus, obwohl es erst seit kurzem ist, dass es so schöne Jahreszahlen gibt, 2000, 2002 oder, mit dieser lässigen Asymmetrie unschlagbar schön: 2003. Das muß ein Jahr geben, hast du am Anfang gedacht. Jetzt bist du durch die Wirtschaft schon wieder durch und beim Sportteil, also Fußball, wo ein rückwärts laufender, fett wirkender Brasilianer mit beidenDaumen über die Schultern weg auf seine Schulterblätter weist, wo über derNummer sein Name steht, eine komische Szene.
„Hallo Nachbar,“ Cem sieht einen Mann um die fünfzig an, der unter dem Fernseher durch den hellen Raum betritt: „Komm gleich.“
Der Mann geht am Tresen entlang, gibt Cem die Hand, der seine dazu auf dem Rücken am Hemd abputzt, ihm dann nur das Handgelenk anbietet, wie du es noch von früher kennst, als du auf dem Bau warst: „Wie geht?“ Der Mann nickt. „Setz dich.“ Der Mann sieht nacheinander die Tische an. „Oh, kannst du dich setzten zu Nachbar. Ist sähr nette Nachbar, kein Problem.“
Der Mann hebt mehr den Kopf, als er dir zunickt, kommt herüber, zieht seinen Schal unterm Mantelkragen hervor, den Mantel aus, den Schal in den linken Ärmel, er hängt alles an den Haken an der Wand neben dem Tisch. Ein Ungar habe, schreiben sie, nach dem Spiel gesagt, sein Tor sei gut für seinen Namen, — Fußball: Vor ein paar Jahren erst hast du wieder damit angefangen, und es war eigentlich nur wegen deinem Sohn, denn Kinder lieben die Stille nicht, und wenn abends der Fernseher in einer mittleren Lautstärke lief, erleichterte es dem Kind das Einschlafen hinter der spaltbreit offenen Tür. Die ersten fünf Jahre ging das so, oder waren es die ersten sechs? Die letzten anderthalb hat er dann noch besser geschlafen, und Krimis kamen nicht in Frage, schließ nur mal die Augen und höre einem zu. Beim Schalten durch die Programme bist du dann meistens an Fußball hängen geblieben, Fußball war besser, und Fußball erinnerte dich an die eigene Jugend, was zuerst lustig war oder exotisch, wie das lautlose Schieben des Kinderwagens am Sonntag morgen im Stadtpark, wo alte Bilder quasi wie Steilpässe aus der Tiefe des Raumes kamen, und du plötzlich an Olaf gedacht hast. Also Olaf.
Olaf packte in der ersten Klasse verschimmelte Pausenbrote aus, aß sie zu eurem Ekel, er war stolz darauf. Für die zweite Klasse schon mußte er abgehen zur Sonderschule, wo man, so die ungefragten Mütter unisono, besser auf ihn eingehen könne. Dein Freund war er. Dass er minderbemittelt war, daran hast du keine deutliche Erinnerung, nichts genaues, aber an das Fußballspielen auf dem eingezäunten Platz neben dem nachmittags zugesperrten Schulhof erinnerst du dich genau. Hoch eingezäunt war er, und Olaf spielte überhaupt keinen Fußball.
Manchmal, wenn niemand zum Spielen da war, stricht ihr deshalb um die Häuser: Blumenstraße, Helmholtzstraße, Mühlenstraße, Mühlenweg. Ihr habt im Vorbeigehen Zweige aus Hecken gerissen, zum Spaß seid ihr auf Blumen in Vorgärten getreten oder, wenn ihr weniger gelangweilt wart, habt ihr euch neben einen am Rinnstein geparkten Wagen gekauert und mit zusammengepreßten Kinderlippen so getan, als ließt ihr Luft aus den Reifen, bis der Nachmittag um war, und ihr nach Hause konntet, oder jemand euch erwischte und rumbrüllte, und ihr das unverschämte Kinderlachen lachtet, das Unwissenheit ist, bis er mit Polizei drohte oder doch noch merkte, er war verarscht.
Oft habt ihr bei Olafs Mutter in der Küche auf der Couch gesessen und daumendicke Weißbrote ohne Butter mit daumendick Nutella gegessen, das Nutella auf die Wangen schmierend und mit dem Finger von da in den Mund schiebend. Sie liebte euch so.
Einmal war sie auch genervt, als ihr klingeltet, ihr Haar wie von einer geheimnisvollen Krankheit zerzaust, sie ließ euch rein, machte wortlos die Brote, nachdem sie sich die Bluse zurechtgezupft hatte und verschwand wieder im Wohnzimmer, zog die Tür hinter sich zu, dass es dich kränkte. „Ein Mann da,“ beruhigte dich Olaf.
Dann seid ihr wieder rausgegangen, du den Ball unterm Arm, groß war der Ball so, und dann waren doch welche auf dem Platz, die keinen Ball hatten und spielen wollten. Olaf setzte sich an die Seite, und im Spiel schlug der Torwart aus der Hand ab, du vorne natürlich, der Abschlag aus zwei Metern dir ins Gesicht: Halbe Bewußtlosgikeit, auch dein Kopf plötzlich groß, Filmriß, dann einzelne Bilder, Kinderköpfe vor Himmel mit Baumwipfeln, deine eigene Schuld. Olafs große, besorgte Augen zwischen denen, die um dich rumstanden, soweit du gesehen hast, und Nasenbluten natürlich, für dieses Mal aber ein beruhigender Grund, blutend nach Hause zu kommen.
Ein anderes Mal wieder war niemand da. Mit Olaf saßest du am Rand des Platzes, diagonal gegenüber dem Eingang und schlugst die Zeit tot, als die beiden Türken, jeder einen Kopf größer als jeder von euch, außen am Zaun auftauchten, sehr viel näher am Eingang als ihr. Die konnten grinsen! Und es war nicht Unwissenheit. „Scheiße,“ sagte Olaf.
In den Fußballverein bist du erst viel später eingetreten, in dem Vorort, in den deine Eltern schon gezogen waren, als du aus dem Krankenhaus kamst.Olaf sei zu weit weg, den sei es am besten zu vergessen, sagten sie dir, aber der Fußballverein, der war wichtig. Wenn du nicht im Fußballverein warst, gehörtest du nicht dazu. Dann gewöhntest du dich an den Fußballverein, und die Plätze neben der neuen Schule hatten Zäune immer mit zwei Eingängen.
Die Zeit begann zu vergehen. Erst langsam, dann schneller, dann noch schneller, dann so schnell, dass du es nicht mehr wahrnehmen konntest, den Verstand beinahe verloren hast, und erst hier steht sie wieder still:
„Mit alles Salat, Döner?“
„Wie immer,“ sagst du.
„Und Knoblauch.“
Du nickst: „Aber sag mal, was ist mit eurem Fußball los?“
„Oh, wollten wir Deutschland wird Europameister, weißt du.“
Er grinst breit: „Ist Taktik.“
„Wofür?“
„2006 schon. Geh ich mit Nachbar zu Endspiel,“ er weist mit dem Kopf auf den Mann an deinem Tisch: „Deutschland – Türkei.“
Du siehst den Mann an. Er nickt.
„Machen wir Sparwasser im Endspiel,“ Cem wieder, „mit deutsche Trainer machen wir.“
„Ach, warst du damals schon da?“
„Kreuzberg.“
Deine Hand macht eine Schaukel: „Kreuzberg nicht gut.“
„Kleine Türkei,“ meint Cem grinsend.
„Hab ich bis zur Wende gewohnt.“
„Gab es nach Sparwasser in Kneipe viel Schlägerei, Kreuzberg.“
„Für wen warst du?“
„Logisch für Deutschland,“ er sieht dich vorsichtig an, als er um den Tresen rum ist und neben dir steht, den kleinen Dönerteller hinstellt, von klein keine Spur.
„Im Endspiel den Neeskens könnt ihr machen,“ sagst du, Olaf im Kopf und die Bilder der neuen Wohnung, die Olaf nie gesehen hat, die ihm so egal gewesen wäre wie die alte, die er auch nie gesehen hat, wo es ihm egal gewesen wäre, ob dein Vater sich Sekt ins Bier kippt oder seine Füße auf den flachen Wohnzimmertisch legt und im Ohr bohrt, während Fußball läuft und seine Freunde die Luft verpesten und grölen und die Frauen ihre Münder verziehen.
Du hast, bis dein Sohn am Ende besser schlief, die Namen wieder gekannt von den Spielern, den Trainern, den Managern, sogar den Vermittlern, kanntest wieder die entscheidenden Spiele der letzten Jahre, Meister der Herzen, die beiden Tore von Manchester United und so weiter, das Eigentor von Ballack in Unterhaching hast du immer als absichtlich hingestellt: der Großkonzern wollte sich das Image des kleinen Verlierers geben. Du hast dich erinnert, dass das komischste Fußballspiel in deinem Leben das erste war, das du wirklich wahrgenommen hast: Deutschland gegen Deutschland, 1974, wahrscheinlich weil die Erwachsenen andere Gesichter bekamen an dem Tag. Dein Kinderkopf hat damals, als du zwischen ihnen saßt und aufpasstest, keinen aufgeregten Ellbogen abzukriegen, gefragt, wie blöde kann ein Land eigentlich sein?
Jetzt kucktest du ganze Spiele, als dein Sohn in seinem letzten Jahr schlief, statt ihn anzusehen, hast dich tagsüber schon auf die Spiele gefreut. Dein Sohn, mittlerweile infiziert, angesteckt von dir, durfte wochentags die ersten Halbzeiten sehen, im Schlafanzug neben dir auf dem Sofa, die Beine zu kurz um an der Kante abgewinkelt zu sein. Im Herbst hast du alle paar Minuten kontrolliert, ob seine Füße warm waren, sie paßten gut in deine Hand, im Winter hast du seine Decke geholt, und er hat die Hölle in Bewegung gesetzt um nicht einzuschlafen, denn einschlafen war Schwäche. Die Frau in deinem Leben war nicht für so langes Aufbleiben, liebte euch aber so. Und du hast streng wiederholt, dass die zweite Halbzeit nicht in Frage käme, und er fragte morgens beim Wecken im Hochbett, dessen Brüstung dir fast bis ans Kinn ging, so dass du ihn ganz nah vor dir hattest: „Wie hammse gespielt?“ In seinen Augen war dieses Leuchten, die Augen der Frau deines Lebens waren deswegen verdreht. Strenge Worte von ihr nun: „Los raus aus dem Bett, im Kindergarten wartet das Frühstück.“
Einmal kam eine kommentarlose Aufzeichnung des Endspiels, Holland – Deutschland, das gegen das andere Deutschland verloren und die bessere Zwischengruppe erwischt hatte, alle glaubten an eine Wiederholung von Ungarn, Schweiz vierundfünfzig, absichtlich verloren: Mythen bilden sich nirgendwo schneller als im Fußball. Und dann die torlose zweite Hälfte vierundsiebzig, dein Vater hatte aus Versehen ein oranges Hemd an, das seine Freunde fünf Minten vor dem Abpfiff grölend zerissen, er saß im Unterhemd da, glücklich, besoffen, schütteres Haar und eine Zigarette im Mundwinkel. Deine gleichaltrigen Freunde fuhren nach dem Abpfiff mit Fahnen an den Fahrrädern Ehrenrunden um den roten Aschenplatz, einer stürzte dabei und brach sich vor Freude die Hand. Du warst zum ersten Mal einsam.
       Noch bevor dein Sohn weg war, hattest du angefangen gehabt, vor den Spielen die Interviews zu kucken, beiläufig, aber als dein Sohn weg war, sollst du zu verwunderten Freunden gesagt haben, ohne Interviews sei das kein Spiel: „Die Wahrheit liegt in den Interviews.“ Deine Stimme war fest und entschlossen dabei, sieben ist dein Sohn nur geworden, trotz Fußball im Fernsehen, und du hattest jetzt nur noch eines im Kopf, Fußball: Spielpläne, Aufstellungen, Verletzungen, Anstoßzeiten, wenn Freunde anriefen, „wir sind in der Lunabar, kommst du?“ sagtest du nein, es käme ein Spiel. Das Kinderzimmer habt ihr so gelassen, bis jetzt, das habt ihr nicht fertig gebracht, das Zimmer ausräumen, und eine Freundin mußte kommen, es wenigstens aufräumen, das Spielzeug in die Regale stellen, die Kindersachen waschen und in den Schrank legen, weil es sonst überhaupt niemand mehr ausgehalten hätte, wie du es nicht fertig bringst, in ein anderes Land zu ziehen, weg endlich, noch nicht. Cem grinst, als du sagst: „In der Zwischenrunde gebt ihr höchstens die Ungarn.“ „Gehst du aber mit uns,“ bestimmt Cem.
„Keine Frage.“ Und wirklich: 2006 ist dein Ziel. Dann endlich abhauen, weg, und wissen wohin.
„War gute Zeit damals zu Sparwasser,“ Cem, wenn er so heißt wie der Grill, reibt Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander.
„Alles auf Pump,“ sagst du, und deine Frau ist schon gleich danach weg, zu ihrer Mutter, die sie pflegt, eine zu pflegende Mutter ist sicher noch besser als ein stummer Mann vor dem Fernseher. Was für ein Glück für sie jetzt das Alter der Mutter.
„War gut gemacht Pump,“ meint Cem, „hat Deutschland gute Land gemacht.“
Du siehst den Mann an deinem Tisch an: „Haben Sie es auch gesehen?“
„Vierundsiebzig?“ Er verneint, interessiert sich gar nicht für Fußball.
„Das ist aber Geschichte.“
„Sicher nicht,“ sagt er, mittlerweile auch den Teller vor sich und dann eßt ihr eine Weile zusammen, zehn Minuten vielleicht, bevor du die Serviette nimmst, zusammenfaltest, auf den Teller legst, ihm zunickst, aufstehst, die Jacke nimmst, vor an den Tresen, das Portemonnaie.
„Vier,“ sagt Cem, weil du das letzte Mal drauf bestanden hast, dass du bezahlst: „Quatsch nicht.“
Die Kasse klingelt, einen Euro zurück, Cem lächelt: „Mein Freund, hat keiner Schuld, weißt du, kommst du rüber.“ Über den Tresen weg schafft er es, dir seinen kurzen Arm halb um die Schulter zu legen, und als du wieder die Augen wischen mußt: „Wir sind immer hier, mein Freund, kannst du immer hier kommen, bitte, kannst du dich hier immer Theke setzen, Leben geht immer weiter hier, ist hier immer gute Platz für dich, ja?“
Dann drehst du dich weg, gehst unter dem stumm laufenden Fernseher durch nach draußen auf die Kreuzung, der Blick nach links in die Danziger Straße, die auf deinem Stadtplan noch Dimitroffstraße heißt, was du früher deinen Gästen immer wieder aufs neue erklärt hast, und dann drehst du nach rechts, in deine Straße. Obwohl du gar nicht dabei warst, siehst du genau die Bilder, wie der Laster auf die Kreuzung rollt, er soll grün gehabt haben, auch wenn das nicht geklärt werden konnte, ein Geräusch hat niemand gehört, nur dann die Schreie des Fahrers, Cem hat das rote Fahrrad gesehen, halb war es nur eingeklemmt und sah gar nicht schlimm aus, aber es reicht wenig, und aus ist das Spiel, es ist aus, und dann kommen die Vorwürfe, ein Kind von sieben allein unterwegs, aber einen Helm hatte er schon, und so weiter.
Du siehst auf die Uhr, heute abend ist Europapokal, da hast du mal echt wieder Glück gehabt, denn den Fußball, den liebst du, für seine Sinnlosigkeit.

© Ralf Bönt