Die Krise der Expertise – für eine engagierte Wissenschaft

Es ist jetzt schon weit über 2000 Jahre her, dass Epikur einen Brief an Menoikeus schrieb. Dass es doch viel besser wäre, meinte der Philosoph, dem Mythos der Götter zu folgen als wie ein Sklave der Schicksalsnotwendigkeit der Naturphilosophen untertan zu sein. Der Mythos vertröste schließlich auf die Hoffnung, dass die Götter sich durch Verehrung bitten ließen, während das Schicksal nur unerbittliche Notwendigkeit aufweise. Beten statt die Bedienungsanleitung der Welt mit dem Kleingedruckten zu lesen: So das Programm der erkenntnisfeindlichen Ablehnung von Fortschritt. Leider muss man sich dieser Tage fragen, wieso es eigentlich noch immer so viele Anhänger findet. Denn es stehen nicht nur Virusleugner auf den Straßen und demonstrieren gegen eine Politik, die sie vor der Infektion mit Coronaviren schützen soll, auch in den Eliten tobt eine Diskussion über Wissenschaftsgläubigkeit und Wissenschaftsleugnung.  

Die Wissenschaftsgläubigkeit wird von ihren Gegnern als Expertokratie angegriffen. Eine solche gibt es auch tatsächlich. Es finden sich zum Beispiel Virologinnen und Ärzte, die auch geimpften Menschen noch herbe Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, Masken und Berufsverbote auferlegen wollen, weil ein paar Restprozente Ansteckungsgefahr ja übrig bleiben. Im Volksmund nennt man das déformation professionnelle: Berufskrankheit. Wie ein Tennisspieler irgendwann von der Welt als gelber Filzkugel träumt, ohne dass ihm etwas auffällt, sehen sie eben nur noch Viren. Die Übertreibungen der Wissenschaftler seien aber, so behaupten ihre Gegner, erst Grund für Wirtschaftschaos und Demoralisierung, für all die Kollateralschäden von nicht gestellten Krebsdiagnosen, Depression und Suiziden, privaten Bankrotten und Bildungsausfall. Man kann jetzt sogar lesen, dass sie für die Tode falsch beatmeter Patienten verantwortlich seien, die nie an Corona gestorben wären. Diese Phantasie von einer szientistischen Diktatur wird meist von Geisteswissenschaftlern vorgetragen, von Philosophen und Historikern, Experten der Katastrophenkunde also. Auffallend häufig geht ihnen dabei um die Diskreditierung des Infektionsschutzes, deren Maßnahmen zu beurteilen sie allerdings nur bedingt befähigt sind.

Leider fehlt bislang aber auch der Bezug zum alten epikureischen Irrtum. Naturwissenschaftler sind ja eben nicht die neuen Götter, sondern nur jene, die die Welt wirklich zu lesen versuchen, die Schrift Gottes würde Johannes Kepler sagen, und auch bei Einstein klingt es nicht viel anders. Lesen und verstehen versklavt nicht, es erweitert Handlungspielräume und damit individuelle Souveränität. Ein Naturgesetz ist eben etwas anderes als der willkürliche Erlass eines Gottes oder seines stellvertretenden weltlichen Patriarchen, der nur bis zum Widerruf gilt. Ein Naturgesetz ist zuverlässig. Deshalb ist die oft gehörte Ansicht, es gäbe nicht nur die eine Wissenschaft, man solle alle Meinungen hören, mindestens äußerst ungenau, vielmehr aber falsch. Schließlich gibt es tatsächlich immer nur eine Wissenschaft, weil es nur eine Wahrheit geben kann. Anders als die Popkultur behauptet, ist nicht alles relativ. Die Relativitätstheorie ist es jedenfalls nicht. Die angebliche universelle Relativität aller Argumente wird aber als Tür benötigt, um unlautere Argumente und eine verdeckte politische Agenda über einen Fehlschluss in der goldenen Mitte einzuschleusen. Die richtige Kategorie von Diskutabilität ist anderswo, sie gründet auf dem Kenntnisstand, den man erstens von einem Naturgesetz und zweitens von der speziellen Situation hat, in der es zur Anwendung kommt. Hier geht es um das Wissen über die Natur des Virus und die Daten über seine Verbreitung. Beides ist natürlich begrenzt und wird fortlaufend entwickelt. Auch das Wissen um die Grenzen des Wissens gehören zum Gespräch.  Aber erst danach kann das entscheidende Gespräch über die Ziele der Politik ausreichend seriös stattfinden. Will man möglichst viele Menschen vor dem Tod bewahren oder gibt es noch andere Werte?

Hier geht es derzeit wenig sortiert zu. Die Kritik an der Expertise hat aber leider nicht zur Klärung beigetragen. Zwar muss man zustimmen, dass zunächst nur Virologen gehört wurden. Erst langsam kamen auch Epidemiologen dazu, die nicht so genau wissen, was Viren in Hals und Lymphe machen, dafür aber umso besser sagen können, wie sie sich in Gesellschaften bewegen. Es waren vor allem Physiker, die große Systeme mit vielen Variablen berechnen können. Leider lösen sie schnell Allergien aus bei allen, die ihre Abneigung gegenüber der Mathematik mit einem gewissen Stolz zu überspielen gewohnt sind. Zu behaupten, man sei nun selbst in einer Simulation, in der Simulation der Simulation der Physiker, ist aber schon ein bisschen kindisch. Vor allem, wenn man seine Wetterapp und den Regenradar auf dem Telefon aktiviert hat, um bloß nicht nass zu werden. Zudem wurden in letzter Zeit auch Ärzte und Immunologen gehört, die über Vitamin D sprachen. Ökonomen mit soziologischen Interessen und Psychologen erteilten Ratschläge, wie man mit dem unausweichlichen und vielfältigen Verzicht umgeht oder besser nicht umgeht. Die Experten des Datenschutzes hätte man besser nicht gefragt, ihnen sind Daten wichtig, nicht deren Besitzer, und sie ziehen mittelalterliche Tücher und Quarantäne der neuesten Technik vor. Ein Philosoph erklärte auch, das Virus sei sehr intelligent. Stephen Hawking hatte schon seine Gründe, als er einst meinte: philosophy is over. 

Währenddessen hat kein Virologe oder Epidemiologe je eine Ausgangssperre verfügt. Das macht bekanntlich die Politik ganz im dezisionistischen Sinne eines Jürgen Habermas. Um zu belegen, dass der Zwang einer Regentin zur Popularität auch keine gute Beratung und schon gar keine Versicherung gegen Fehlurteile ist, sondern im Gegenteil direkt zur Wissenschaftsleugnung der Pseudoexperten führen kann, sei hier an Queen Victoria erinnert. Nachdem der Weg sehr weit gewesen war von Magnus dem Schäfer, der in seiner Langeweile einst sich anziehende und abstossende Steine entdeckte, bis hin zu Michael Faraday, der den Konflikt zwischen Elektrizität und Magnetismus gelöst hatte und der Welt die erste vereinheitlichte Theorie der Natur vermachte, war der Rückweg dann sehr kurz zu den Mesmeristen. Sie rückten Tische durch stundenlang aufgelegte Hände und brachten sie schließlich zum Schweben. In Trance verwiesen sie gerne auf die Königin, die meinte, es müsse doch etwas dran sein, wenn so viele es glaubten. Als Faraday kam und ihnen das Gegenteil bewies, winkten sie mit Verweis auf die Königin glückselig ab. Freiheit macht eben mehr Arbeit als Illusion. 

Dass es primär um Werte ginge, nicht um Wissen, wie der schweizer Historiker Caspar Hirschi in einem seltsam entsicherten Beitrag über eine Wissenschaft voller Ideologie und Propaganda schrieb, will deshalb hoffentlich nicht in dieser Klarheit und Konsequenz in jeden Kopf. Dass Wissen Macht ist, weiß auch jedes Kind, seit Wilhelm Liebknecht im Februar 1872 vor den Arbeitervereinen Dresdens und Leipzigs seine so betitelte Rede gehalten hat, die als wirkmächtigste des 19. Jahrhunderts gilt. Ein Engagement der beteiligten Wissenschaftler, wie es Faraday in London gezeigt hatte, ist deshalb erwünscht, auch wenn die Times damals nur schrieb, er habe den Mesmeristen seine Ehre erwiesen. Die Experten, so sehr sie in einem pragmatischen Regime der Entscheidung nur ihren Teil beitragen können, sollten sich vor allem auch gegen Missbrauch ihres Wissens wenden. Ein solcher Protest fehlte im 20. Jahrhundert. Und heute muss man sagen, dass sie sich auch gegen die Ignoranz wehren müssen. Schließlich haben Virologen seit Jahren schon gesagt, dass eine Pandemie auf jeden Fall kommen wird. Die Frage war nur wann. Ob es reicht, in einem Fachjournal zu publizieren, oder die Wissenschaft auch eine soziale Kraft ist, ob Wissen verpflichtet, ist eine der wichtigeren Fragen. Die Antwort kann in einer freiheitlichen und bürgerlichen Welt nur Ja lauten. Etwas mehr Expertokratie hätte uns diese Katastrophe erspart.  

Und es wäre fatal, diese Einsicht weiter aufzuschieben. Denn als habe die Geschichte ein feines Gespür für Ironie, befinden wir uns inmitten einer der größten Wellen von Kirchenaustritten, die man je gesehen hat, während Naturwissenschaftler spektakuläre Widersprüche zu jener Theorie entdeckt haben, welche die Welt seit Jahrzehnten nur immer genauer beschrieben hatte: Dem Standardmodell, das alles über Kräfte und Materie weiß. Die Ähnlichkeit unserer Tage zur Zeit der Schwarzen Grippe vor genau einem Jahrhundert ist frappierend. Es gab damals mehr Grippeopfer als Kriegstote, die Relativitätstheorie wurde bestätigt und stürzte alle Vorstellung von der Welt um. Zentrale Autoritäten kamen in der Natur nicht mehr vor. Eine beinahe ungezügelte Erneuerung in Wissenschaft, Kunst und Politik folgte. Es könnte also gut sein, dass gerade jetzt, da sich alle ausgerechnet die alte Normalität zurück wünschen, eine große Revolution ihren Lauf nimmt. Sie wird sich gewiss nicht in Digitalisierung und Diversifizierung erschöpfen. Vielmehr ist die epikureische Praxis, alles zu tun, um nicht in der Moderne anzukommen, definitiv gescheitert. Ihr erstes Gesetz hat Francis Bacon, der große Empiriker, formuliert, bevor Liebknecht es belieh. Für die Freunde des derzeit gängigen, banalisierten Begriffs von Freiheit klingt es aufregend provokant: „Man besiegt die Natur, indem man ihren Gesetzen gehorcht. Wissen ist Macht.“ Wer sie hat, sagen die Unverständigen und Ahnungslosen: Wehe dem! Das ist gut nur für das Virus, den echten Diktator.