Frühsommerpollenstadtsport

Wie die Zecke auf Getier unter ihrem Baum, so wartet der Städter am Fenster seiner Wohnung auf den ersten ernsthaft warmen Tag des Jahres. Konzentriert, einsam und reglos hockt der Städter hinter der Scheibe, an der die Graupelschauer enden, um im Moment, in dem der Himmel aufreißt und das Thermometer eine Zwanzig vor das Komma schreibt, in die Straßen zu stürzen. Wo seit Monaten nur Hunde und Briefträger waren, sieht man jetzt den Städter flanieren, er sitzt in hundert Cafés. Die Seele des Städters im Freien ist entspannt wie der Blutdruck des Alkoholikers beim ersten Schluck Rotwein des Tages. Das Zittern lässt endlich nach.
       So geht es jedem Städter und jeder Städterin, mit Ausnahme eines Kuriosums: dem Allergiker. Er liebt den Winter, sogar an einem Ort wie Berlin. Der Allergiker tobt sich in der lichtarmen Zeit täglich draußen aus. Während der gewöhnliche Städter mit Johanniskraut gegen die Depression kämpft, fährt der Allergiker täglich mit dem Rad zur Arbeit. Wetter? Unerheblich! Die Mischung aus Regenwasser, Spritzwasser, Schweiß und Schneematsch ist sein Biosphärenreservat. Erkältet? A, geh. Schleimhäute? Immer sauber. Impulse für das Immunsystem? Jede Menge. Kerngesund ist der Allergiker im Winter, im März krönt er den Spätwinter mit einer Radtour im polnischen Riesengebirge bei plus zwei Grad Celsius und maximaler Luftfeuchtigkeit. Mit dem Stand der Bekleidungstechnik kennt der Allergiker sich aus, das Cabrio des Städters findet er kindisch.
Wenn der Sommer kommt und der Städter mit dem Cabrio wieder zur Eisdiele fährt, und sein alljährliches Gefühl nach sechsundachtzigstündiger Fahrt Lissabon erreicht zu haben bei einer Zigarette genießt, verzieht sich der Allergiker in seine Wohnung. Fenster bleiben geschlossen, Besucher sind nicht wirklich willkommen, alle zwei Stunden wird geduscht. Die Frau des Allergikers lässt sich Verhaltensmaßregeln erklären, wie jedes Jahr, sie schüttelt den Kopf. Wie jedes Jahr. Der Allergiker schläft jetzt getrennt und prüft den Keller auf besseres Klima. Ob er da schlafen kann? Was erklärt er den Nachbarn? Er kehrt in seine Wohnung zurück und nimmt nach dem Ende des Winters sein Ergometer in Betrieb, denn der Bewegungsmangel schlägt schon nach vier Tagen in den vier Wänden der Familie aufs Gemüt, sofern der Allergiker über die Frühjahre noch eine hat halten können.
Der Allergiker schwitzt im Frühsommer als erster und rotzt was das Tuch nicht halten kann. Freundlich ignoriert er telefonische Hinweise seiner nicht allergischen Mitmenschen, so eine Allergie sei doch immer auch psychisch bedingt. Er sitzt hinterm Fenster und wartet auf Regen. Er liest den Videotext ab Seite 170, 180 und 500 halbstündlich als ob es was nütze. Er nimmt Augentropfen mit längst geübter Treffsicherheit und legt eine Favoritenliste mit Informationsdiensten im Informationsnetz an. Er vergleicht alle Vorhersagen und meldet sich weitere zwei Tage krank. Er hängt nasse Handtücher auf, dann setzt er sich wieder ans mittlerweile beschlagene Fenster, und nimmt das Stadtleben draußen im Frühsommer wie Fernsehen.
Der Allergiker telefoniert mit der Allergologin, nein, er könne nicht in die Praxis kommen, vielleicht morgen, weil da soll es regnen, aber die Medikamente gehen zur Neige, dieses Jahr ist es aber wirklich auch schlimm, sagt die Sprechstundenhilfe, morgen sei leider keine Sprechstunde, was machen wir denn jetzt. Verschwommen sieht der Allergiker seine Frau ihn bemitleidend ansehen. Die Kinder des Allergikers, wenn er sie über die Frühjahre hat halten können, spielen und schlafen bei Freunden, Papa hat Schupfen sagen sie, und die anderen Eltern sagen: der Arme. Der Arme liest Windberichte und überlegt, ob er mit geschlossenen Fenstern nach Rügen fahren kann, das könnte er schon, aber was, wenn der Wind dann auf Süd dreht?
Der Allergiker setzt sich in die Duschtasse und lässt erschöpft Wasser über den Kopf laufen, bis der Temperatursturz kommt. Jetzt entspannt sich der Allergiker endlich. Vor den Cafés werden die Tische zusammengeklappt, als erste Tropfen erste fallen, dann auftreffen, der rauchende Städter mault, kaum sei es mal schön, da regne es auch schon wieder. Der Allergiker kocht seine Bettwäsche aus, kocht seine Bettdecke für Allergiker aus, küsst im Vorbeigehen seine erschöpfte Frau, meldet sich auf der Arbeit für morgen an. Wie die Zecke auf Getier unterm Baum hat der Allergiker auf den Frühsommerregen gewartet. Am Cabrio des Städters vorbei radelt er gut gekleidet durch den Verkehr. Das Gehupe der Mitmenschen in Blech stört den Allergiker nicht.

© Ralf Bönt