Fußballmoment

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Juli 2018
Özil treibt den Ball in der Mitte nach vorne, na gut, der Ball rollt eher und Özil trabt hinterher, um zu sehen, wo der Ball noch so hinrollt. Dann bleibt er stehen, langsam wohlgemerkt, weshalb alle anderen auch anfangen stehen zu bleiben. Özil fragt sich beinahe, wer er ist, ob dies seine Füße und Hände sind, die so oft fotografiert wurden, bis sie ihm fremd waren, auf welchen Willen sie warten. Was wollen die anderen? Sekunden verrinnen und Wolken ziehen, in den russischen Wäldern grasen Rehe und Elche, als ob es nie Dinos und Erdbeben und Vulkane und Jesus gegeben hätte, irgendwo weint ein Kind, ein Selbstmörder springt vom Stuhl, das Seil strafft sich, ein Junkie setzt sich einen Schuss, ein Junge sieht verträumt aus dem Fenster, ein Mädchen auch, tausende Liebespaare lieben sich bei laufendem Fernseher, die anderen nehmen einen Schluck aus der Bierflasche oder seufzen, bis alle auf dem Spielfeld zum Stehen gekommen sind. Jetzt schiebt Özil den Ball lustlos nach links. Er vermutet ihn da gut aufgehoben, er will Zeit gewinnen um sich klar zu werden über den Urknall, der auch ihm eine Existenz geschenkt hat, die man nicht begreifen kann, und das geht nur, wenn nichts passiert und alles anhält, und man Zeit hat, einfach nur endlos Zeit, doch links ist man überrascht, das man was machen soll, und spielt zurück nach hinten, und so kommt man nicht vorwärts, so kriegt man die Welt nie zur Ruhe, so hält nie alles ein für allemal an, so läuft immer alles nur im Kreis, wenn man Glück hat, oder rückwärts und man muss von vorne anfangen, und das hätte Frau Merkel ihm vor dem Spiel schon sagen können, wenn sie es denn eingesehen hätte. Hat sie aber nicht. Mannschaftssport bleibt ja faszinierend, das Gefüge eine faszinierende Fehlerquelle. Vielleicht gewinnt mal ein Neuling, Kroatien, Belgien, Mexiko. Und in acht Jahren wird uns ein Ausnahmefußballer, der sein Team mitgerissen hat, erzählen, wie er damals das Dribbling von Manuel Neuer in einer Mietwohnung in Wellensieck stumm angesehen hat, um danach aufzustehen und mit dem Fahrrad ziellos herumzufahren und einsam zu weinen, weil so gut zu sehen war, dass das jedem passieren kann.