Zur neuen Ungefährlichkeit von Amalgam
Im vergangenen Monat verspeiste der italienische Landwirtschaftsminister Paolo De Castro demonstrativ eine Scheibe dioxinverseuchten Büffelmozzarella vor laufender Kamera. Man müsse schon sieben Kilo am Tag davon essen, um gesundheitliche Schäden davon zu tragen, war seine Erklärung. Aber er hatte sich mit seiner PR-Aktion vertan. Keine zwei Tage später war die neapolitanische Spezialität wegen Überschreitens der EU-Grenzwerte vom Markt. Wer wollte auch solchen Käse genießen oder ihn Kindern und Alten zumuten, die vielleicht nur ein oder zwei Kilo vertrügen, bevor sie definitiv krank würden. Was war mit Schwangeren oder stillenden Frauen, denn vielleicht reichen ein paar hundert Gramm zur Schädigung des Kindes? Und was mit bereits Kranken, wie viel Dioxin vertragen sie? Genau würde man das nicht wissen können. Aber De Castro hatte de facto auch nur gesagt: Mir doch egal, ich bin noch gesund. Er konnte oder wollte sich einfach nicht vorstellen krank zu sein.
Diesen Monat wurde in München eine neue Amalgamstudie vorgestellt. Sie wurde aus einem Fonds finanziert, in den die Degussa als ehemals größter Hersteller von Amalgam infolge einer Sammelklage wegen Körperverletzung eingezahlt hatte. Die Gutachter vom Zentrum für naturheilkundliche Forschung der TU München, fanden „keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Amalgamfüllungen und den Beschwerden der Patienten.“ In der Presse wurde dies als „Entwarnung“ verbreitet: Ein Irrtum.
Man muss feststellen, dass die Aussage erstens wissenschaftlicher und zweitens juristischer Natur ist. Deshalb muss man sich den Satz genau ansehen und aufs Negativ lesen. Ein Zusammenhang wurde nicht widerlegt. Aber darauf kommt es nicht einmal an. Denn niemand kann erklären, weshalb ausgerechnet die Anzahl der verlegten Plomben die signifikante Variable sein soll für das Auftreten von Beschwerden. Wieso hat man nicht die Menge an verlegtem Quecksilber betrachtet, die vergangene Zeit seit der Verlegung, die gesamte Oberfläche der Plomben, den Grad ihrer Abnutzung oder die Anzahl von Defekten an den Plomben, sowie die Qualität ihrer Reparaturen? Dies sind vermutlich viel relevantere Größen als die Zahl der Plomben allein. Dazu müsste man Risikogruppen betrachten, wollte man eine brauchbare Aussage haben.
Bekannt ist: Quecksilber ist das giftigste nichtradioaktive Element. Es schmilzt bei –38° Celsius. Darüber entstehender Quecksilberdampf ist vollkommen farb- und geruchlos. So wie inhalierter Alkohol etwa tausendmal giftiger ist als getrunkener, ist das Einatmen von Quecksilberdampf und –staub sehr viel gefährlicher als das Verschlucken dieses Schwermetalls. Der Königsweg zur Intoxikation ist die Lunge. Im Organismus agiert Quecksilber an vielen Stellen und blockiert den Stoffwechsel. Es dringt ungehindert über Bluthirnschranke und Zellwand in Gehirnzellen und das Zentrale Nervensystem ein und demoliert Koordination, Konzentration und Gedächtnis.
Natürlich setzt Amalgam nur geringste Mengen Quecksilber frei. Milliarden von Menschen leben nicht schlecht mit ihren Füllungen. Aber es ist leicht vorzustellen, dass die Abweichung – zahnärztlich als Unfall zu bezeichnen – hier zum Alltag gehört wie in anderen Lebensbereichen auch. Der typische Fall sieht so aus: Eine 35jährige Architektin geht zum Zahnarzt, der feststellt, dass mehrere alte Backenzahnplomben erneuert werden müssen. Er bohrt, die Assistentin saugt. Saugt sie wirklich? Ist es ein Lehrling oder nur ein Praktikant? Vielleicht fordert der Zahnarzt ihn auf, sorgfältiger zu saugen. Nach zwei oder sechs Wochen fühlt die Frau sich unwohl, sie schläft schlecht, ist gereizt, zittert, isst nicht. Sie kann sich nicht konzentrieren, hat wiederkehrende Pilzinfektionen. Sie überlegt. Der Giftnotruf der Großstadt sagt, das Runterschlucken der Krümel beim Zahnarzt sei nicht gefährlich. Ihre Haare fallen aus. Ihre Freunde sagen, sie sei, wie so oft, überarbeitet. Sie kann ihre Arbeit nicht mehr machen. Der Arzt ist ratlos und überweist sie in die Psychosomatik, wo man das Problem kennt und eine Entgiftung in die Wege leitet, obwohl man sie nicht wirklich messen kann. Oder der Arzt misst selbst nach, stellt keine Vergiftung fest. Dann schickt er die Frau in die Psychiatrie, die sehr geduldig ist.
Statt nach ein paar Wochen können Symptome aber genauso gut erst nach Jahren auftreten. Erst 14 Jahre nach einem Unfall erreicht die Ausprägung ihren Höhepunkt: Bei fortschreitender Vergiftung stellt sich der Tremor mercurialis ein, eine neurologische Störung des Kleinhirns mit Zittern des ganzen Körpers. Der Betroffene fällt durch starke Reizbarkeit auf und braust wegen Kleinigkeiten auf. Er ist oft müde und erschöpft, kann aber nicht schlafen und wird von nervöser Unrast getrieben. Verschlimmert sich das Bild, so spricht man vom Erethismus mercurialis, einer Übererregbarkeit des ganzen Nervensystems. Der Betroffene kann nicht mehr zwischen Gefühlswelt und Verstandeswelt vermitteln, er ist unfähig zu relativieren, alles bricht aus ihm heraus. Insgesamt kann man sagen, dass Quecksilber die Unterschiede aufhebt: Zwischen Wachen und Schlafen, Hunger und Sattheit, Traurigkeit und Glücksgefühlen und so weiter. Nach einer Weile weicht das erste Bild mehr und mehr dem des ängstlichen, unentschlossenen, schüchternen, anämischen Menschen. Die Patienten leiden an Sprachstörungen und verminderter geistiger Aufnahmefähigkeit. Der treffendste Begriff, der alles zusammenfasst ist Persönlichkeitsabbau.
Es gibt drei Dinge, welche die Diagnose sehr schwierig machen:
1. Die fehlende zeitliche Korrelation zwischen Intoxikation und Symptom.
2. Die mangelnde Nachweisbarkeit, denn wirklich nachweisen kann man den Quecksilbergehalt nur an einem Würfelchen Hirnmasse.
3. Die Menge an Symptomen und dass sie abwechselnd auftreten.
Dabei decken sich seriöse Auflistungen immer zu 80 oder 90%. Richtig verstanden wird die Vergiftung aber offenbar nur von Betroffenen. Der berühmteste ist der Berliner Chemiker Prof. Alfred Stock. In den 1920er Jahren war seine ganze Arbeitsgruppe von Verdummung betroffen, bis der bekannte Toxikologe Louis Lewin in darauf aufmerksam machte, dass sein Labor besser von Quecksilber zu reinigen ist, mit dem täglich gearbeitet wurde. Stocks Aufsätze über den Quecksilberdampf finden sich im Internet und sind mit Abstand die luzidesten Beiträge zum Thema. Besonders erhellend ist darunter der Bericht über einen Kollegen, der den Verdacht einer Vergiftung brüskiert von sich wies, nach einem längeren Gespräch jedoch froh war, endlich den Grund für seine jahrelangen Leiden gefunden zu haben.
Amalgamiertes Quecksilber wurde in den USA als Zahnfüllstoff übrigens schon vor 170 Jahren eingesetzt. Nachdem sich in der Folge unerklärbare, diffuse körperliche Beschwerden häuften, wurde es 1840 von der amerikanischen Regierung verboten. Wissenschaftler berichteten über Nervenkrankheiten, die seit der Verwendung des Amalgams auftraten. Zahnärzte, wegen des Schwermetalls häufig auch „Quacksalber“ genannt, wurden bei Zuwiderhandlung nicht nur aus dem amerikanischen Ärzteverband ausgeschlossen, zeitweilig stand auf die Verwendung von Amalgam sogar Gefängnisstrafe. Da Amalgam schon damals in seiner Eigenschaft als günstiger und gut zu verarbeitender Füllstoff überzeugte, wurde die Legierung trotz gesundheitlicher Bedenken um 1855 wieder zugelassen. Einige Jahrzehnte später führte man Amalgam auch in Europa ein, und mit ihm breitete sich das als „amerikanische Krankheit“ bezeichnete Nervenleiden aus.
Heute aber ist weniger bekannt als im 19. Jahrhundert. Weil die Erkrankung so schleichend verläuft, ist sie selbst für den Kranken lange schwer als Erkrankung zu erkennen. Quecksilber ist an keinem Stoffwechselprozess beteiligt, wird nirgends benötigt, und ist – eine Seltenheit – nur giftig. Weil es aber überall im Körper wirkt, wird der Belastete an seinem schwächsten Punkt erwischt: Die Energieversorgung wird schleichend immer weiter herabgesetzt, bis Funktionen aussetzen. Die Milliarden gesunder Amalgamträger sind auch beeinträchtigt, können aber noch weniger Schlüsse ziehen, woher ihre alltäglichen Erkältungen, Allergien und die Alterskrankheiten herrühren. Man hat sich gewöhnt.
Den besten Rat findet man auf den Internetseiten von Reinhard Lauer. Das wichtigste bei Verdacht ist, die Ruhe zu bewahren, denn Quecksilber ist sehr langsam und sogar bei schweren Vergiftungen kann man wieder gesund werden. Man kann sanft entgiften, mit Koriander und Algen, oder hart mit schwefelhaltigen Säuren wie DMPS und DMSA. Wer einen Test auf Quecksilber macht, bekommt nur eine brauchbare Aussage, wenn das Ergebnis positiv ist. Ein negatives Ergebnis besagt nichts, denn je chronischer die Vergiftung ist, desto langsamer wird man ausschwemmen können. Dazu gibt es sowieso keinen unteren no-effect level, wie die Uni München herausfand. Und wer möchte schon 5% des beschriebenen Krankheitsbildes haben? Wer zwei, drei Kapseln DMSA nimmt und sich nach ein paar Tagen besser fühlt, hat einen Anhaltspunkt. Aber Vorsicht: Dann beginnt der Giftpegel zu schwanken, weil der Körper umverteilt. Entfernen sollte man die Plomben auf jeden Fall, am besten solange man gesund ist. Bei sauberer Arbeit des Arztes und Ausleitungsmaßnahmen gibt es keine Gefahr. Die aber ist dann da, wenn man noch andere Krankheiten, Schwachstellen oder Risiken hat, wie sie mit dem Alter zunehmen. Aber nicht nur im Alter: Bei Ratten ist eine Dosis von Quecksilber und Blei, die einzeln zu einer Mortalität von jeweils 1% führen, in Kombination zu 100% tödlich. In Berlin aber ist noch heute jede dritte häusliche Wasserleitung aus Blei.
© Ralf Bönt