Was uns der Rassismus über den Sexismus lehrt
Die Welt, April 2019
Im Bemühen um mehr Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern laufen wir derzeit Gefahr, in einen Stellungskrieg zu geraten, der statt mehr Bewegung immer mehr Blockade erzeugt. Schuld daran sind Affekte, die von den Jahrhunderte alten Zurücksetzungen rühren. Schon Hillary Clintons Niederlage war da exemplarisch, als im Wahlkampf ein Zitat von ihr durchs Internet ging, in dem sie Frauen als die ersten Opfer eines Krieges benannte, denn «sie verlieren ihre Männer, Väter und Söhne im Kampf.» Diese Grobheit stand für den geradezu zyklopischen Blick, den Clinton endgültig in ihrem ersten Auftritt nach der Wahl verriet. Die Zukunft, sagte sie da polarisierend, sei weiblich.
Danach sieht es aber nun so wenig aus, dass man in Deutschland den Parteien das Geschlecht der Kandidaten in den eigentlich freien Wahlen vorzuschreiben beginnt. In Brandenburg müssen bei der übernächsten Wahl so viele Frauen wie Männer auf den Listen der Parteien stehen. Freilich ist nichts schlimm daran, endlich beide gleich stark vertreten zu lassen. Man muss auch nicht gleich fragen, ob wir bald Behinderte, Einwanderer und Aussiedler, Superreiche und Arbeitslose, Mathematiker, Poeten, Lungenkrebskranke, Rentner oder Kinder paritätisch beteiligen wollen oder Frauen nicht doch nach ihrem tatsächlichen Anteil in der Bevölkerung Listenplätze zugesichert bekommen. Sie sind ja in der Mehrheit.
Schlichter kann man fragen, was denn das Parité-Gesetz an der Politik ändert, denn einen so rabiaten Eingriff in die demokratische Wahlfreiheit wird man nicht mit einem Anrecht auf Posten legitimieren wollen, den es gar nicht geben kann. Schließlich steht es den Bürgerinnen frei, eine Frauenpartei zu gründen, nur Frauen aufzustellen und diese zu wählen. Etwa um den männlichen, potenziell dominanten Praktiken der Entscheidungsfindung etwas ganz Neues entgegenzustellen: eine weibliche politische Kultur. Man muss sich einmal klarmachen, dass das Parité-Gesetz diese Partei verbietet. Es verbietet auch eine Partei, die so viel Frauen aufstellt wie die jetzigen Parteien Männer. Aus Clintons weiblicher Zukunft würde nichts.
Fragen wir also, ob mehr Frauen eine bessere Politik machen werden? Für wen? Für Frauen? Ist denn die Politik für Frauen jetzt so ausgenommen schlecht? Oder ist der Feminismus als erfolgreich zu betrachten, und hat er vom aktiven und passiven Wahlrecht, über die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe und Straffreiheit von Abtreibungen, bis zu Frauenparkplätzen und Frauenbeauftragtinnen viel erreicht? Hat nicht der Feminismus beneidenswert viel erreicht, wenn man an die Vorsorge bei Prostatakrebs denkt, an Obdachlosigkeit, Gewalt im öffentlichen Raum, Prävention gegen Alkoholabhängigkeit oder den Schutz vor frühzeitigem Tod durch Stresserkrankungen, an all die männlichen Schwächen und Nachteile also. Dazu gehört auch das Familienrecht, Beispiel Scheinvaterschaft. Es ist gewiss nicht einfach, Ungleiches gleich gut zu behandeln, vielmehr kann auch die Gleichbehandlung von Ungleichem sexistisch sein, und bei Elternschaft oder Genitalchirurgie gerät man schnell in argumentative Bewölkung. Aber festhalten kann man doch, dass es seit hundert Jahren eklatante gesetzgeberische Verbesserungen für Frauen gegeben hat, und zwar mit männlich dominierten Parlamenten.
Männer machen also nicht etwa Politik für Männer. Etwas großspuriger kann man sagen, dass die männlich dominierte Arbeiterbewegung sich für alle eingesetzt hat, der Feminismus aber nur für die Frauen. Das ist kein Vorwurf an eine Seite, sondern die Folge des Patriarchats, das wiederum Folge vor allem einer Arbeitsteilung war, wie sie in einer Gesellschaft mit einer Geburtenquote von fast 14 Kindern pro Frau bis 1870 kaum anders möglich gewesen ist. Schon das Absinken dieser Zahl auf sein Zehntel macht unmissverständlich klar, in welchen Veränderungen wir stehen. Und zwar Männer wie Frauen. Letztere müssen jetzt beginnen, sich für die Interessen der anderen zu interessieren, jene der Männer, das längst prekäre Geschlecht. Einen anderen Weg zur Macht gibt es in der Demokratie zum Glück nicht.
Dass sie das zu wenig tun, lässt sich auch an der zentralen Hoffnung illustrieren, die mit mehr Frauen in Parlamenten verknüpft werden. Freunde des Parité-Gesetzes wünschen Entspannung vor allem in Hinblick auf die heute so oft angeführte toxische Männlichkeit, die vom zu großen Turbodiesel in der Innenstadt bis zur internationalen Finanzpolitik derzeit für beinahe alles übel in der Welt verantwortlich gemacht wird. Auch wenn etwas dran ist, bedarf es hier eines genaueren Blickes. Der Begriff taugt nämlich nichts. Abgesehen davon, dass weder Angela Merkel noch Theresa May leuchtende Gegenbeispiele paradiesischer Staatenlenkung voll Einigkeit und Glück sind, kann Männlichkeit an sich so wenig toxisch sein wie Wetter oder Wasser oder etwa Weiblichkeit. Der Fachbegriff für unbegründetes Risikoverhalten lautet daher auf Hypermaskulinität. Zu deutsch: Übermännlichkeit. Oder sagen wir gleich: Übermenschlichkeit. Ein über das Maß des Menschlichen hinaus Agierendes, bei dem man nicht erklären muss, wie ungesund es für alle Beteiligten ist.
Übermännlichkeit, so weit geht die Ungleichheit der Geschlechter eben doch, entsteht beim Jungen ab einem Lebensalter von zwei Jahren. Dann bemerkt er, anders zu sein als die Mutter. Leider sind oft keine Männer in seiner Nähe und so entsteht eine überlebensgroße Vorstellung von allem, was Männer tun, können und müssen und von dem, was der Junge einmal zu sein hat. Die Übermännlichkeit ist eine Überreaktion auf das scheinbar Unerreichbare, es ist die fehlende Brücke zwischen dem männlichen Kind und dem erwachsenen Mann. Donald Trump ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Er ist nie über diese Brücke gegangen. Er tut nur so.
Auch ein paritätisch mit Männern und Frauen besetztes Parlament wird es nicht leicht haben, denn männliche Heldentaten sind genau so tief ins kollektive Bewusstsein eingeschrieben wie die viktorianische Überzeugung einer Mary Somerville oder Ada Lovelace, als Frau über keinerlei Genie zu verfügen. In den Kolumnen der Magazine und Debatten in den Netzwerken stehen nicht Frauen mit Selbstbewusstsein im Vordergrund, sondern jene mit Wut, vor allem auf Männer. Statt die Wut nun zu überwinden und in der Gegenwart anzukommen, wollen sie ganz gewiss ganz allein über Abtreibungen entscheiden und mehr Hilfe für Alleinerziehende. Als wäre es revolutionär, wenn die Frau für das Kind zuständig ist. Die junge Feministin Teresa Bücker denkt, genau wie ihre katholische Gegnerin Birgit Kelle, in keiner Frage an einen Vater. Entspannung ist nicht in Sicht.
Und die Männer stehen auch nicht auf. Sie hören lieber auf den kanadischen Psychologen Jordan B. Peterson, der mit einem antizivilisatorischen Furor das Patriarchat in der Natur begründet sieht, als habe es nie eine Moderne gegeben. Peterson erklärt gern die irrsinnigste Aggression noch mit der Werbung des Mannes um die Frau. Und als sei sie aus Spiegelneuronen gemacht, spricht Margarete Stokowski dem Mann jegliche Gefühle ab. Es ist klassisch patriarchal, wenn sie schreibt, sein äußeres Genital habe weniger Nervengeflecht als ihres. Dabei liegt dessen Zentrum etwas verborgen unter der Prostata, im Inneren, wenngleich von außen erreichbar. So organisiert man Stillstand. Es gibt auch viel zu wenig Väter, die sich voll für eine Brücke zwischen ihren Kindern und der Welt einsetzen. Sie haben keine Rechte, und doch fanden sich auf ihrer jährlichen Demonstration in Köln zuletzt keine 100 Teilnehmer: eine Peinlichkeit. Es wird wohl nur ein automatischer Vaterschaftstest helfen und ein strenges Recht des Kindes auf die umfassende, persönliche Sorgepflicht seines genetischen Vaters. Da leibliche Elternschaft sowieso nicht kündbar ist, bräuchte man, anders als beim Parité-Gesetz, auch keine artistische Begründung.
Aber Frauen und Männer begegnen sich im Moment, wie es der postkoloniale Psychoanalytiker Frantz Fanon einst für die Ethnien beschrieb: mit der komplementären Neurose. «Für uns ist derjenige, der die Neger vergöttert», schrieb Fanon, «ebenso krank wie derjenige, der sie verabscheut. Umgekehrt ist der Schwarze, der seine Rasse weiß machen will, ebenso unglücklich, wie derjenige, der den Hass auf die Weißen predigt.» Und gleichzeitig leide der Weiße unter dem Zwang, besser zu sein und herrschen zu müssen. Fanons Zeitgenosse James Baldwin legte seinesgleichen denn auch emphatisch nahe, die Weißen durch Liebe zu befreien, denn nur dann könnten auch die Schwarzen frei sein. Es ist eben besser, sich auf die eigene Freiheit statt auf den Kampf gegen die Freiheit des anderen zu konzentrieren. Männer und Frauen könnten es in Zeiten großen Wohlstands, sehr weniger Kinder und ubiquitärer Elektrizität, die die Muskelkraft für den Sport freigestellt hat, eigentlich leicht haben. Liebe deinen ungleichen Nächsten, wäre das Motto, hasse ihn nicht.
Copyright Ralf Bönt