Nie sagte jemand, er gehe noch ins Charivari. Höchstens fragte einer: Gehen wir noch rüber? Und dann war die Antwort ablehnend. Man ging ja nicht absichtlich hinein, aus freiem Willen oder bewusst.
Wegen der Sperrstunde stand man vor einer anderen Kneipe auf der Strasse, hatte hinter sich den Schlüsselbund gehört, wie er beim Drehen des Schlosses in sich und an die Tür schepperte, was bei einem Gastraum ein besonders polarisierendes Geräusch ist. Man hatte die guten Wünsche des Kneipiers aber im Ohr, und es war entweder warm, so dass man noch reden konnte und kein Ende fand, oder es war kalt, so dass man fror, bevor das laufende Gespräch zu einem Ende gekommen war. Einer erbarmte sich vielleicht und sagte wie absichtslos: Na los, eins noch. Wahl gab es dann keine, Konzession bis drei hatte nur das Charivari.
Man konnte sagen: Nee, echt nicht. Das klang dann sehr norddeutsch.
Man konnte sagen: Aber nur eins. Das klang immer noch wie nicht aus München.
Man konnte, beide Hände in den Jackentaschen oder lässig mit einer gestikulierend, Blick auf den Boden oder waagerecht die Türkenstraße hinunter, sich einfach in Bewegung setzen, den Redefluss dabei nicht unterbrechend. Beim Gehen sah man auf die Schuhspitzen und trieb ein Argument auf die Spitze, bis man den Türgriff des Charivari in der Hand hatte, den Gang verlangsamte, und zum Punkt kam: Bitte. Dann schlug einem die Luft entgegen, falls man das Luft nennen konnte.
Das Charivari roch nicht nach Kneipe, die etwas von Zigarillo gehabt hätte, von Mahlzeiten und Bier, von Holzbänken, von Kaffee, auch etwas von rauchenden, parfümierten Frauen auf Barhockern, die mal gut, mal schlecht gelaunt waren und sich aus beidem nichts machten. Eine Kneipe hätte etwas von alten Männern mit zuviel Zeit gehabt, von Flirts mit der Länge eines Augenaufschlages und von der schönen Illusion, die Zeit anzuhalten.
Das Charivari roch sauer, es roch nach Alkohol, wie eine englische Kneipe mit Teppichboden und täglich überschwappenden Pints. Der Zigarettenrauch war immer von gestern und letzter Woche, er kam aus den Vorhängen, aus den Sitzpolstern der Stühle und Bänke, auf die zu setzen man sich überwand, um es gleich zu vergessen, von den gehäkelten kleinen Tischdeckchen aus Nylon stieg, das meinte man, kalte Asche auf.
Vergessen ist ein gutes Stichwort. Man setzte sich hin und vergaß. Dass es morgen weiter ging und auch dass das eben schon vorbei und das gleich schon beinahe jetzt war. Und natürlich vergaß man den banalen Grund des Eintretens, dass man so jung nicht mehr zusammen kam. Im Charivari wusste man, dass man nicht nur ein Glas zuviel trinken und um wie viel der nächste Tag deshalb härter würde. Man tauschte diesen nächsten Tag gegen Biere ein, weil man die kommende Härte ja auch noch vertrug, den Dämmer, den der Kopf ausstrahlen würde, die Langsamkeit der Gedanken, die fehlende Lust auf Bewegung und die nur automatisiert gemachte Arbeit. Das Ganze eine Entschuldigung.
Geht man ins Charivari, so habe ich immer gesagt, hat man verloren. Heute weiß ich, das Charivari ist aus Sauerstoffmangel gemacht. Man sitzt und gibt den Willen auf, man fügt sich in die Niederlage, und auf diese kleine Souveränität ist man stolz: Ein Trick.
Aber ich philosophiere, Entschuldigung. Ich wollte ja eine Liebesgeschichte erzählen, eine mit Anfang und Ende, die von Johann und Anne. Wegen der Namen könnte man auf die Idee kommen, er habe angefangen und sie die Geschichte beendet, wie man es auch heute noch immer gleich annimmt, aber hier war es anders. Angefangen hat es durch einen Blick von ihr, von dem Johann im Charivari erzählte. Er war ein schlanker, agiler Mann, war frisch nach München gekommen, von Hamburg aus, hatte neben seiner Arbeit an der Universität politisch arbeiten wollen, war einer Partei beigetreten. Beim ersten Termin, man saß um einen großen runden Tisch und besprach eine Kampagne, kam jemand zu spät: Anne. Sie war nervös deswegen, selbst neu in der Partei. Setzte sich. So hat es Johann erzählt: Sie sah dann auf, blickte in die Runde, mir in die Augen, sah nicht mehr weg. Womit schon alles passiert war. So was gibt’s.
In den kommenden Wochen trank Johann mehr als zuvor und redete weniger. Manchmal kam er von einer Sitzung, dann fragte ich, ob er Anne getroffen habe. Er bejahte auf eine Weise, die weiteres Nachfragen unterband. Oder er verneinte. Einmal, es war spät im Charivari, Winter, erzählte er wieder von dem Blick. Und einmal erschien eine junge Frau mit Freunden, kam zu uns an den Tisch, Johann stellte vor: Anne, Ralf. Wie? Ralf. Hallo. Ja. Sie lächelte. Später kam sie an unseren Tisch, ihre Freunde gingen, wir gingen, Johann und Anne blieben.
In den kommenden Wochen trank er weiter wie zuvor, er war fröhlich, dann hörte das auf. Er nahm ab.
Ich sah Anne in der U-Bahn, sie erkannte mich und wendete ihren wilden, gierigen Blick, als meiner ihren berührte, in die andere Richtung, stieg an der nächsten Station entschlossen aus. Als hätte ich etwas Beleidigendes gesagt. Johann fehlte öfters, einmal rief er an, krank, ob ich einkaufen könne für ihn.
Ich machte monatelang meine Arbeit, abends trank ich mein Bier. Johann ebenso. Manchmal sahen wir Anne in einer der Kneipen, manchmal kam sie zu Johann und begrüßte ihn, zweimal ging sie grußlos sofort wieder, als sie ihn entdeckte. Einmal kam sie danach wieder, setzte sich dazu, mehr als nervös, ging früh.
Ich fragte ihn eines abends nach ihr. Einmal die Woche sagte er, donnerstags. Da war ihr Mann zum Nachtdienst in Augsburg. Ich nickte, sagte: Pass auf Dich auf. Er brach sich beim Fußball den Fuß.
Am Bett im Klinikum rechts der Isar fragte ich: War Anne mal da?
War sie nicht, sagte er. Wäre auch gut so.
Den päppeln wir erst mal auf, sagte die Schwester zu mir.
Als er wieder raus war, nahm er wieder zu und sah bald aus wie vorher, nur älter. Nach drei Wochen legte er die Krücken weg. Nach drei Monaten spielte er wieder Fußball. Seit ihrem Blick war ein Jahr vergangen.
Noch ein Jahr verging, Johann hatte eine andere Freundin, die wir nie sahen, dann noch eine, die nur einmal mitkam ins Charivari, dann keine. Wie so viele andere, die später zurückkamen, bereitete er seinen Umzug nach Berlin vor. Er schmiss seine Karriere hin und wollte Schauspieler werden. Die Zeit sei reif. Wir feierten seinen dreißigsten Geburtstag in einem Theaterkeller, in dem die Polizei um halb elf wegen Ruhestörung vorbeischaute, uns dann aber bis um fünf in Ruhe ließ. Er wurde später tatsächlich Schauspieler.
Sechs Tage vor dem Umzug nach Berlin saßen wir im Charivari, die Niederlage, die das für ihn bedeutete, auskostend, als Anne hereinkam und sich zu uns setzte. Bald war ich rechts im Gespräch, Johann und Anne links auf der Ecke. Zwei, drei Stunden vergingen. Die beiden wirkten gleichzeitig vertraut und unsicher.
Sie habe von ihm geträumt, berichtete Johann später, sie glaubte nun zu einer richtigen Affäre in der Lage zu sein. Nichts habe er darauf gesagt, berichtete er, was ich wie ihren Satz auf die Müdigkeit der Gedanken schob, auf den Sauerstoffmangel aus dem das Charivari gemacht ist. Bei einem Waldspaziergang wäre alles ganz anders gewesen!
Er verneinte. Mit einem Blick von ihr habe begonnen, was sie mit einem Satz ganz beendet habe. Nach ihm waren wir jeder seines Weges gegangen, Johann, der umzog, Anne, die davon nichts wusste, und ich, der ich nur Gast war.
Anne habe ich noch ein paar Mal in einer der Kneipen gesehen. Wenn sie mich bemerkte, war ihr Blick scheu, nicht mehr gierig wie anfangs. Johann wohnt jetzt seit Jahren in Zürich, und manchmal telefonieren wir. Bald gehe ich ihn einmal besuchen. Im Charivari war ich, obwohl ich noch immer in München wohne und längst nicht mehr weg möchte, schon ewig nicht mehr.
© Ralf Bönt