Namenlose

An einem Wintersonntag kurz vor zwei Uhr nachts sprach sie ihn auf der Straße vor seiner Wohnung an. Er hatte wie immer seine zwei Biere getrunken und auf die Sperrstunde gewartet, die auch im ‚Türkenhof’ Routine, wenn nicht ein Ritual war: An einem der Tische, die um die übergroße, dreischenklige Theke herum Platz hatten, traf er sich täglich zwischen Mitternacht und halb eins mit den Freunden, redete über Politik und manchmal, wie an dem Sonntag mit Charlie, auch über Frauen. Als Männerbierrunde blieben sie sitzen, bis gegen halb zwei alle anderen Stühle schon auf den Tischen standen, die Kasse den Tag zusammengerattert hatte und die Bedienungen ihren aggressiven Ton anschlugen, der ihnen so wenig ausmachte wie uns vieren oder fünfen am Tisch.
Vor der Tür verabschiedeten sie sich gewöhnlich mit flüchtigen Gesten. Wohl wegen der Kälte, die ihnen an dem Sonntag auf den Stufen entgegenschlug, waren Joe und die anderen schon grußlos in ihre Richtungen auseinander gegangen, bevor er noch etwas hätte sagen können. Mit dem R4, dessen Motorgeräusch ihn an einen Campingkocher erinnerte, fuhr er durch Schwabing, über die Isar, dann den kleinen Anstieg am Engelsdenkmal hoch, von dem er nicht wußte, wofür es stand. Er durchquerte das schlafende Haidhausen, kreuzte den Leuchtenbergring und kam hinterm Ostbahnhof raus. Statt der hübsch sanierten Altbauten standen hier typische Wohnblocks der Siebziger, und niemand kam jemals zufällig in diese 
Gegend. Er hatte die Entscheidung, die ihn in einer Kette von Folgen hierher gebracht hatte, selbst und ohne jeden Zwang gefällt, er wußte daß es keinen Grund zum Bedauern gab, keinen. Die Nüchternheit des Viertels paßte dazu, und ihm gefiel das während der anderthalb Jahre, die er hier wohnte. Er liebte, meinte er, die Ecke und seine kleine, simple Wohnung mit Südbalkon. Oft scherte er sich tagsüber um niemanden.
     Jetzt parkte er den R4 ein, stieg aus. Die Kälte brannte auf seinem Gesicht und in der Brust. Mit einem Blick zu seinem Balkon im ersten Stock hinauf ging er über die Straße und um die Hausecke und sortierte gerade den Schlüsselbund, als sie ihn in seinem Rücken ansprach: „Kann man hier noch was zu trinken kriegen irgendwo?“ Ihre Stimme war ungewöhnlich dringend und kontrolliert und vollkommen persönlich an ihn gerichtet.
     Er drehte sich sofort um. Sie war fast noch auf der anderen Straßenseite, kam langsam herüber. Ihm war aufgefallen, daß sie nicht bayrisch sprach, daß sie nicht ‚bekommen‘ sagte, sondern das norddeutsche ‚kriegen,‘ und daß sie nicht jenes schöne, für ihn fast exotische, weiche ‚ch‘ hatte, wie man es vor allem in München hört. Irgendwie war er sofort mit ihr verwandt oder glaubte es und wußte jedenfalls, daß ihre Frage Vorwand war. Sie lief ziellos durch den Block und die Nacht.
     Die Kneipe im Haus wurde gerade geschlossen, die nächste, die ihm einfiel, war fünfzehn oder zwanzig Fußminuten weg. Er gab ihr eine Antwort.
     „Mein Zug geht um vier,“ sagte sie von der Mitte der Straße, „haben Sie vielleicht etwas zu trinken, was Sie abgeben können?“
     Sie überquerte den kleinen, gefrorenen Rasenstreifen, der den Gehweg von der Fahrbahn trennte, stieg dann über den albernen Begrenzungsdraht. Jetzt standen sie voreinander. Ihre Atemwolken stiegen im Lichtkegel der Straßenlaterne auf und verschwanden im Dunkeln. Er bejahte: „Ja, sicher.“ Als er ihr die Tür aufhielt, und sie unter seinem Arm hindurch ins Treppenhaus ging, sah sie ihn kurz und scheu an. Sie war viel kleiner als er. Vor ihm ging sie die erste Treppe hoch, blieb auf dem Absatz stehen, um ihn vorbeizulassen, folgte ihm still auf der zweiten.
     „Ich habe bloß eine Flasche Sprudel da,“ sagte er oben etwas lauter über seine Schulter weg und beugte sich in der Kochnische zum Kasten runter. Sie war an der Tür stehengeblieben und konnte ihn dort nicht richtig hören. Wortlos betonte sie ihre Zurückhaltung, stand an der Teppichkante, die den äußeren Flur vom inneren trennte, und wortlos nahm sie die Flasche entgegen. Sie wollte ihm einen Euro geben, aber der Blick bat ihn um etwas, fand er, mindestens. Er winkte ab und sah ihr sekundenlang in die Augen. Sie hielt dem nicht nur stand, sondern beruhigte sich offenbar jetzt und fragte extrem vorsichtig nach einem Glas.
    „Ja, komm einfach rein,“ sagte er laut.
     Schritt für Schritt tastete sie sich in den Raum bis zum Schreibtisch vor, wo der einzige Stuhl stand. Wahrscheinlich war sie in seinem Alter, knapp dreißig, nicht leicht zu schätzen, da sie anders gekleidet war als er und seine Leute, sich anders gab, wenn man so was jetzt überhaupt ausmachen konnte. Er hatte sie bewußt geduzt. Sie setzte sich unaufgefordert, fragte, „du bist Student,“ und nickte bei seiner Antwort: „So was ähnliches.“ Er holte seinen zweiten Stuhl vom Balkon, zwei Gläser.
     Sie tranken also Mineralwasser aus Gläsern. Einen kurzen Moment lang stand alles still. Dann fragte er, wieso sie hier in der Nacht unterwegs sei.
     Sie sah ihn an: „Mein Freund wohnt um die Ecke.“
     Er fand, das war die einleuchtendste aller denkbaren Antworten.
     „Ich weiß nicht,“ sagte sie schnell, „ob ich klingeln soll bei ihm, und jetzt ist es schon so spät, jetzt geht es nicht mehr.“
     Sie war schon über zwei Stunden unterwegs. Sie beobachtete ihn, wie er trank.
     „Wenn es dein Freund ist,“ sagte er forschend, „kannst du immer klingeln.“
     „Und wenn die andere da ist,“ sagte sie hauptsächlich zu sich selbst und gerade so laut, daß er es noch hören können sollte.
     Er zögerte.
     „Ich habe ihn so frustriert,“ erklärte sie mit jener Direktheit, mit der sie ihn schon auf der Straße erreicht hatte, „daß er sich eine andere genommen hat, eine Schwarze, jetzt kann ich gar nicht hochgehen, schon wegen Aids, was meinst du?“
     Er goß Mineralwasser nach, was ihm lächerlich vorkam. Ob sie rauchen dürfe? „Nicht hier drin, leider.“ Nicht nur ihre Stimme, auch ihr Blick flackerte. „Du mußt ja nicht gleich mit ihm schlafen,“ sagte er unwillig.
     Zwei, fast drei Wochen habe sie ihn nicht gesehen, erklärte sie jetzt traurig und hatte seinen letzten Satz schon mit einer Geste kommentiert: Was er gesagt hatte, war absurd.
     Sie schwiegen. Am Freitag der seit ein paar Stunden angebrochenen Woche hatte er eine Prüfung, es würde die letzte für ihn sein, er hatte einen rigiden Arbeitsplan für die vier kommenden Tage Montag bis Donnerstag und schon jetzt einen Fehler gemacht. Nach vielleicht einer Minute wollte sie wissen, woher er denn eben gekommen sei, „um die Zeit.“
     „Vom Fernsehgucken,“ gab er zurück, und sie sah ihn unwillig an, antwortete aber nichts, ließ ihren Blick in seinem Zimmer herumwandern, sagte dann beiläufig: „Welches Programm?“
     „Immer dasselbe.“
     „Jeden Tag,“ stellte sie lapidar fest, sah dabei hinter sich, wo auf einem kleinen Podest der Futon lag.
     „Fast,“ sagte er streng, aber der Ton schien sie noch sicherer zu machen, und sie sah ihn wieder an: „Hier hast du ja auch kein Wohnzimmer.“
     „Und keine Kumpels zum Biertrinken.“
     Sie nickte ablehnend.
     „Und Belanglosigkeiten reden. Ist nach einem langen Tag aber sehr angenehm.“
     Sie nahm sich eine Zigarette aus der Packung, spielte damit.
     „Du arbeitest sonntags?“
     Er arbeite immer, sagte er, und sie fragte, ob immer dieselben da wären zum Biertrinken.
     „Ein Stamm von zwei sicheren, zwei sehr wahrscheinliche, ein seltener.“
     „Wo denn?“
     „Schwabing.“ Er hatte jetzt wieder einen neutralen Ton gewählt und redete schneller.
     Wer der seltene war, fragte sie.
     Er lachte: „Joe.“
     „Und? War Joe heute da?“
     „Ja,“ sagte er nachdenklich, denn mit Joe hatte er lange in der engen Gasse zwischen Theke und Tischen gestanden, und Joe hatte erzählt, wie seine Geliebte mit einer androgynen Freundin und der Bemerkung, sie müsse mal ohne Mann sein, nach England gegangen sei, von wo sie sich seit Wochen kaum meldete. „Sonst hätte ich ihn wahrscheinlich gar nicht mitgezählt. Er gehört nicht wirklich dazu.“
     „Wohin gehört er?“
     „Nirgendwo hin.“
     „Wie ist er denn, der Joe,“ fragte sie freundlich.
     „Schnorrt sich Biere mit Geschichten zusammen, lustiger Typ.“
     Sie nickte. Er wollte auch eine Zigarette, sagte, sie könnten draußen rauchen, aber sie wollte nicht in die Kälte.
     „Hat er heute eine Geschichte erzählt?“
     „Seine Freundin ist mit der Bemerkung, mal ohne Mann sein zu müssen, nach England gegangen.“
     „Und?“
     „Sie haben zwei Jahre jede Nacht in einem Bett geschlafen. Jetzt meldet sie sich nicht,“ sagte er, und weil sie nicht reagierte: „Ist eigentlich eindeutig.“ Sie nickte und zog die Schultern zusammen, als ob ihr kalt wäre.  Dann sah sie im Zimmer umher.
     „Wie kann man bloß so wohnen?“ fragte sie harsch, und er erschrak. Seit Wochen war niemand bei ihm gewesen. Auf dem Boden lagen kleine Papierstapel verteilt, Bücher hatten sich in der Folge des Lesens und Anlesens zu Türmen hochgewachsen, andere waren noch nicht ausgepackt worden nach dem Kauf. Er wußte, in welcher Reihenfolge seine Platten gerade standen, Videokassetten mit Hendrixkonzerten lagen herum, er kannte sie auswendig, eine Phädraaufführung hatte er zweieinhalb Mal angesehen. Am Bett stand eine Flasche mit einem Rest Rotwein. Auf dem großen Schreibtisch häufte sich alles Mögliche. Er wußte von jeder Kaffeetasse, jedem Weinglas seiner Burg genau Bescheid, welche Briefe er wann bekommen hatte, und wo jeder von ihnen zufällig zuletzt liegen geblieben war. Er wußte genau, wer ihn anrief, und wer vielleicht anrufen konnte, und daß er viel zu arbeiten hatte, abends zur Türkenstraße hinüber fahren und einmal in der Woche nachmittags zum Sonnenstudio im Ostbahnhof laufen würde. Im Schneematsch ging er da immer an den Taxis vorbei zur ganzverglasten Vorderfront des Landes, verschwand unter den Blicken koffertragender Durchreisender in einer der kleinen Boxen, wo er sich auszog, nackt zwei Fünfer in einen Schlitz warf, eine Plastikfolie über die Plexiglasbank spannte und nach dem Drücken des Startknopfes sich für zwanzig Minuten in die brummende Presse legte, um den Stoffwechsel in Gang setzen zu lassen. Er war wirklich nicht unglücklich, aber jetzt vom zweiten Stuhl aus schien seine Ordnung lieblos.
     „Wieso,“ gab er gereizt zurück, „ich bin hier am arbeiten, das hat System.“ Und nach einer Pause: „Ist ja nicht für Besucher gedacht.“
     Sie antwortete nicht. Ihre Anwesenheit füllte den kleinen Raum mehr als aus, schweres Parfüm schwebte herüber. Er hatte sie von der Straße geholt, und jetzt bewegte sie sich auf dem unbequemen Stuhl, als hindere nur die Körperlichkeit sie am Frohsein oder die Kleider waren es oder der Kopf oder der Mann nebenan, und am Schluß, das war jetzt klar, würde er es sein. Wieder in die Nacht gehen lassen konnte er sie nicht, dazu war es nach seiner Einladung zu spät, er hatte als Helfer angefangen, und zwischen zwei Menschen werden die meisten Regeln in den ersten zehn bis zwölf Minuten gemacht. Sie verletzte diese so wenig wie er.
     Noch mal schlug er vor, auf dem Balkon eine zu rauchen: „Ich muß auch bald schlafen, die nächste Woche ist nicht die einfachste.“
     Auf dem Balkon zitterten sie, und während sie den Rauch zusammen mit ihrem kondensierten Atem geradeaus blies, beugte er seinen Kopf dafür nach hinten und schob den Unterkiefer vor, fast wie es ein Hund tut, wenn er heult. Dabei fiel ihm auf, daß die Balkontür im 3. Stock gegenüber einen Spalt offen stand, genau wie schon gestern und vorgestern. Auch das Licht brannte seit Freitag unverändert.
     „Du mußt die Polizei rufen,“ sagte sie so bestimmt wie unaufgeregt.
     Erst zögerte er, ging dann aber zum Apparat, wurde mit der Dienststelle in seiner Nähe verbunden und erklärte die Situation. Man fragte ihn, ob er die Nachbarin kenne. „Vom Sehen.“ Den Namen immerhin wußte er, seit er einmal ein Paket angenommen hatte, das sie am selben Abend sich freundlich bedankend abgeholt hatte.
     „Welches Alter,“ fragte der Polizist.
     „Mitte dreißig.“
     Nachdem der Polizist seinen Namen mit Adresse und Telefonnummer und den der Nachbarin notiert hatte, ließ er sich auf einer zweiten Leitung über die Auskunft verbinden, aber niemand meldete sich.
     „Sie wollen, daß wir kommen und die Tür aufbrechen?“
     Gar nichts wolle er, außer melden, was er beobachtet habe. Beim Telefonieren sah sie ihn ungerührt an. Der Polizist fragte, um welche Sorte Person es sich bei der Nachbarin handelte.
     „Was meinen Sie?“
     „Das wissen Sie sicher,“ sagte der Polizist, „irgendwelche Auffälligkeiten?“
     „Auffallend freundlich,“ sagte er, „sonst nichts auffallendes.“
     „Was für eine Stimme hat sie?“
     „Ganz normal. Ich habe nur einmal mit ihr gesprochen.“ Beim Sprechen sah er sie an, aber sie nickte nicht, sie lehnte auch nichts mit einem Kopfschütteln ab oder ließ überhaupt erkennen, daß sie dem Gespräch folgte. Sie beobachtete ihn nur. Er zitterte, und der Polizist fragte wieso. „Weil ich bei minus fünfzehn Grad auf meinem Balkon stehe.“
     Der Polizist bat ihn, hinüber zu gehen und zu klingeln. Zuerst wehrte er sich, er wollte um die Zeit nicht mit der Nachbarin reden, sollte sie doch da sein, aber er wollte die Frau von der Straße auch nicht in seiner Wohnung allein lassen. Daß sie nicht mitkommen würde, ahnte er. Um sich keine mögliche Blöße zu geben, stimmte er schließlich doch zu, legte auf, sagte ihr, daß er hinüber ginge um zu klingeln, sie nickte, sagte schnell und ruhig: „Ich warte hier.“ Sie ging vom Balkon mit hinein, setzte sich wieder auf den Stuhl, auf dem sie zuvor gesessen hatte.
     Es dauerte nicht lang, bis er die Treppe des einen Stockwerks hinunter gesprungen und über den Gehweg gelaufen war, wo er sie vorhin getroffen hatte. Schnell war er um die Ecke, an seinem R4 vorbei, hatte geklingelt ohne wirklich auf eine Antwort zu warten, sich umgedreht, und mit einem Blick zu seinem Balkon, auf den jetzt das Licht aus dem Zimmer fiel, passierte er die Hausecke abermals und schloß die Tür wieder auf. Die Treppe ging er langsam hoch. Er versuchte zu überlegen, was ihn erwarten konnte. Ein paar Augenblicke später sah er sie wieder an seinem Schreibtisch sitzen.
     Sie fragte nicht: „Und?“
     „Nichts,“ sagt er aber, und sie: „Komisch.“
     Der Polizist war gleich dran.
     „Nichts.“
    „Wenn wir jetzt kommen und reingehen,“ sagte der Polizist, „ist die ganze Straße wach.“
     Da er nicht antwortete, sagte der Polizist: „Vor drei Monaten gab es einen solchen Fall, und die Kollegen sind nicht reingegangen. Später stellte sich raus, daß die Frau zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hat. Laut Obduktion jedenfalls.“
     „Kann auch ein Mann tot sein,“ sagte er.
     „Sehr unwahrscheinlich,“ sagte der Polizist sehr langsam. „Was meinen Sie, gehen wir rein? Wir könnten über den Balkon gehen.“
    „Ich meine gar nichts, außer daß hier bei Frost seit drei Tagen die Balkontür einen unveränderten Spalt aufsteht und das Licht brennt. Der Rest ist Ihrs.“
     Der Polizist seufzte, sagte, er mache sich wahrscheinlich zum Idioten, kündigte einen Mannschaftswagen und die Feuerwehr an, bedankte sich und legte auf.
     „Sie kommen,“ sagte er noch mit dem Telefon in der Hand zu ihr, als ob sie zusammen schon eine Reise in die Wüste gemacht, eine lebensbedrohliche Krankheit überstanden oder gegenseitig die Großeltern begraben hätten, und sie sagte: „Gut.“ Dann fragte sie, ob er eine Freundin habe. „Gehabt,“ sagte er.
     Er steckte sich eine neue Zigarette an und rauchte still, sie ging ins Badezimmer. Zuerst kam der Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei, dann der Leiterwagen der Berufsfeuerwehr, dann ein Streifenwagen. Motoren wurden abgestellt, Blaulichter drehten sich lautlos, Kommandos wurden unaufgeregt in Funksprechgeräte gesprochen. Die Polizisten klingelten bei der Nachbarin, überquerten die Straße, klingelten bei ihm, zwei Beamte in Stiefeln kamen herein und befragten ihn erneut, wollten seinen Personalausweis sehen, notierten etwas, nickten, gingen wieder. Draußen besprachen sie sich mit dem Hauptmann der Feuerwehr, der auch nickte, sich umdrehte, seinem Fahrer winkte, woraufhin der Leiterwagen sein orangefarbenes Signallicht einschaltete und rückwärts in Stellung fuhr, oben dabei in den Bäumen Äste knickend.
     Als sie aus dem Badezimmer kam, hatte sie frisches Parfum aufgelegt. Er stand hinter der geschlossenen Balkontür und rauchte. Blaues und oranges Licht wechselten sich auf seinem Gesicht und dem Zigarettenqualm erst ab, dann mischten sich beide, weil das Signal der Feuerwehr schneller rotierte, dann entmischten sie sich wieder, orange hatte blau überholt. Draußen dröhnte der Dieselmotor des Leiterwagens beim Hochfahren der Leiter. Weitere Äste wurden gebogen, brachen und fielen auf die Straße. Ein Feuerwehrmann und zwei Polizisten stiegen nacheinander hinauf, traten auf die Brüstung des Balkons und sprangen hinein. Nach einer Minute oder zweien schob einer der Polizisten die Tür ganz auf, und sie betraten die Wohnung. Einer auf der Straße, offenbar der Einsatzleiter, erhielt Angaben auf sein Funkgerät, gab Anweisungen. Nach wenigen Minuten waren seine Leute durch das Treppenhaus nach unten gekommen. Der Feuerwehrhauptmann bekam ein Zeichen, die Leiter wurde mit nur leicht vermindertem Motorenlärm wieder eingefahren. Mittlerweile waren in zwei Wohnungen gegenüber die Lichter angegangen, einen Nachbarn konnte er im Dunklen hinter seiner Gardine stehen sehen. Sie drehte sich zu ihm.
     „Und wo ist sie?“
     „Die Nachbarin?“
     „Die Freundin.“
     „Weit weg, keine Ahnung.“
     Während sich die Feuerwehr unten vom Einsatzleiter verabschiedete und seine Kollegen die abgebrochenen Äste einsammelten, schlug er vor, sie zum Freund zu begleiten: „Ich klingle für dich.“ Sie schüttelte herrisch den Kopf oder nur störrisch oder wie ein Kind in Angst. Er setzte sich an den Schreibtisch und atmete aus.
     „Woran ist es gescheitert?“
     „Was?“
     „Mit der Freundin.“
     „Wenn sie mich umarmt hat, war sie gar nicht bei mir.“
     Ob sie an jemand anderen gedacht habe?
     Das wußte er nicht.
     „Hast du sie nicht gefragt?“
     Hatte er nicht. Er goß Mineralwasser nach, und konnte sich nicht gegen die Erinnerung wehren, wie er das erste Mal unvorbereitet und unerfahren mit ihr im Bett gelandet war. Sie hatte ihn gesteuert und das verblüffend gut raus gehabt. Ohne Worte war er aufgefordert gewesen, sich gehen zu lassen, und brachte alles zwischen ihre Bäuche, wo sie die warme Masse mit ihren Kinderkörpern lachend aufeinander verteilten, bis auf ihre hellen Brüste herauf und auf seine. Der Samen zog ein bißchen ein, trocknete aber vor allem schnell und wurde zu einem dünnen Silberschimmer auf der Haut. Am Abend hatte er dann gedankenlos geduscht, und als sie sich am nächsten Tag auf dem Schulhof wiedertrafen, zog sie ihn in eine Ecke, küßte ihn auf die Wange, bog ihren Oberkörper zurück, strich mit der Hand darüber, lächelte froh und sagte ihm ins Ohr: ‚Ich habe dich seit gestern mit mir rumgetragen.‘
     „Nein,“ sagte er, er hatte sie nicht gefragt.
     Und sie: „Komisch.“
     Zuletzt hatten sie nächtelang miteinander telefoniert. Mit weicher Stimme hatte sie ihm dann zum Beispiel von einem Vierzigjährigen erzählt, mit dem sie am vorigen Nachmittag zusammen gewesen war, und dazu gesagt: ‚Keine Ahnung, wie das wieder kam.‘
     „Sie mochte Jungs und Männer fast wie man Katzen oder Hunde oder Pflanzen mag, mit Hinwendung und ein bißchen Mitleid. Sie konnte sich ihrer bedienen.“
     Sie sah ihn aufmunternd an: „Wie hat sie gerochen?“
     „Nach frischem Brot und Zigaretten und nach Großzügigkeit.“
     Es klingelte. Der Polizist vom Telefon kam mit einem Formular in der Hand hoch.
     „Nichts,“ sagte er genervt, „niemand zu Hause.“
     „Komisch.“
     „Die Wohnung ist vollkommen in Ordnung, keine Auffälligkeiten, aber hoffentlich finden wir sie nicht irgendwo anders.“
     Er mußte ein Protokoll unterschreiben.
     „Gute Nacht.“
     Er nickte dem Polizist zustimmend zu, schloß die Tür.
     „Als sie das letzte Mal anrief, habe ich idiotischerweise behauptet, verheiratet zu sein.“
    Sie nahm sich ihr zweites Glas Wasser, er fragte, wo sie wohnte.
     „An der Isar, im Frauenhaus.“
     „Ich fahr dich hin.“
     Sie schüttelte den Kopf wie vorhin.
     „Und deine Eltern?“
     Sie erzählte, woher sie kam. Ihr Vater hatte offenbar einen echten Schaden, ihre Mutter war sonstwo, nicht erreichbar. „Viel wichtiger als woher man kommt, ist eh“ meinte er schließlich, „wo man hingeht.“ Es dauerte eine Schrecksekunde, bis sie reagierte, atemlos, mit großen Augen und Mund ihn anstarrte und sagte: „Ja – super.“
     Er versuchte seinen Widerwillen zu verbergen: „Was machen wir jetzt?“
     Im Frauenhaus, sagte sie, hasse sie alles: „Die machen immer gleich so ein Gesicht, wenn ich meine Wäsche aufhänge.“ Er stockte. Ihre Stimme war jetzt anzüglich oder höhnisch, er sah weg.
     „Das ist gleich zuviel für die,“ setzte sie nach und fixierte ihn, „wenn man ein bißchen was Ausgefallenes trägt.“ Er wurde still und sah ihren vollen Körper vorsichtig an. Sie verzeichnete das zufrieden. Es mußte jetzt etwa vier Uhr sein.
     „Was hältst  du von Bukowski,“ fragte sie.
     „Scheiße,“ sagte er, „der letzte Mist. Wieso wohnst du im Frauenhaus?“
     „Er hat Bukowski gelesen,“ meinte sie, „er findet das total klasse, Bukowski, ich weiß auch nicht, was ich von ihm halten soll und jetzt mit der Schwarzen, wahrscheinlich ist die jetzt auch da.“
     Er brummte etwas, dann entstand eine Pause.
     „Bukowski ist jedenfalls echter Dreck,“ sagte er noch mal gereizt, „wenn er das jetzt nachmachen will, vergiß es.“
    Sie überlegte, ob sie die letzten tausend Euro, die sie hatte, in zwei Wochen Mallorca investieren sollte, um nachzudenken und dann das zu tun, was für sie richtig war. Sie fragte ihn, was er davon halten würde. Er wußte es nicht. Er schlug ihr noch mal vor, zum Freund rüber zu gehen, und sagte wieder: „Ich komme mit und klingle für dich.“
     Sie antwortete nicht. Beide schwiegen. Dabei sah sie ihn herausfordernd an. Er spürte seinen Puls in der Halsschlagader, sie starrte auf die Stelle, sagte gleichzeitig: „Ins Frauenhaus geh ich auf keinen Fall, die Hexen da machen mich fertig.“ Und nach einer Pause: „Für die bin ich eine Sau.“
     Mit Reden waren sie zu Ende.
     „Dann muß ich hier schlafen,“ sagte sie selbstsicher. Er nickte, und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Er hörte wie sie etwas auszog. Als er zurückkam stand sie in Nylons und Unterhemd vor dem Bett, legte sich dann an die Wand, mit den Füßen zum Kopfende: „So rum natürlich,“ sagte sie, „zur Sicherheit.“
     Ob sie ein Kissen bräuchte.
     „Nein, danke.“
     Er machte das Licht aus, kippte die Balkontür, legte sich auch hin und war froh um die Ruhe, obwohl er halb wach blieb. Ihr schweres Parfüm bedeckte ihn. Eine Stunde ging das so oder drei. Er würde morgen ins Sonnenstudio gehen, beschloß er in dieser Endlosigkeit, weil das eine gewisse Ehrlichkeit hatte: Wenn die Wärme seinen Körper durchdrang, und das Gebläse seiner Biologie den lauen Wind einer Südseeinsel simulierte. Im Morgengrauen muß er schließlich eingeschlafen sein. Sie weckte ihn mit einem harten Ellbogenstoß in den Oberschenkel und bewegte sich nervös. Er schlug die Augen auf, da waren ihre Beine. Er griff eine Fessel, hielt inne, rieb das Nylon auf ihre Haut, die Anspannung wich. Eine Minute blieben sie so, dann machte sie sich frei und stand auf.
     Ohne Kaffee getrunken zu haben, fuhr er sie schweigend zur Isar hinunter. An einer Kreuzung ließ sie sich absetzen, sagte, das Haus sei in der Nähe. Sie stieg aus, sah ihn kurz an und sagte freundlich: „Danke.“
     „Besser‘ dich,“ sagte er, und ihre Antwort war ein Blick voll Wut und Enttäuschung. Sie schlug die hohle Blechtür zu, und er drehte und ärgerte sich über diesen letzten Satz. Wieder zu Hause schlief er in ihrem Parfum bis in den Nachmittag. Dann setzte er sich wieder an seine Arbeit.

© Ralf Bönt