Was die Generationen verbindet

Was den Rentenpolitiker vom Feuilletonisten unterscheide, soll in diesen Tagen eine gern gestellte Spaßfrage unter Intellektuellen der Republik sein. Die Antwort ist leicht und wird auch unter arbeitslosen Akademikern grinsend gegeben: Der Rentenpolitiker müsse sich die einschlägigen Generationen nicht erst erfinden.
Die „Generation Berlin“ etwa, ausgemacht als eine in den frühen Sechzigern geborene Kohorte, ist bekanntlich geburtenstark und müsste jetzt oder sehr bald staatstragend sein und die Steuerkasse füllen. Zur Enttäuschung manches Kommentators sitzt sie angeblich aber irgendwo zwischen Lamento und elitärer Gleichgültigkeit in den Altbauwohnungen am Prenzlauer Berg, in Haidhausen oder Altona. Statt Vollzeit zu arbeiten, ist sie auf der Suche nach Teilzeitjobs, reichlich mit geerbten Euros versorgt oder wenigstens mit ambivalentem Selbstgefühl als Lehrer verbeamtet, die vielen Ferien vor sich selbst und den Freunden als Hauptentschuldigung anführend. Und tatsächlich: Norbert Blüms Versprechen, die Rente sei sicher, hat diese Generation auffallenderweise bestenfalls belustigt, nie aber ernsthaft interessiert: Ihre Zielvorgaben und Träume waren immer schon sowohl weniger von Angst als auch weniger materiell dominiert.
Im Osten wurde viele Jugend lang das Ende des Mauerstaates herbeigesehnt, mit dem nicht die Rente, sondern endlich erst einmal das Leben seine Chance kriegen sollte. Um alles andere kümmerte man sich später. Im Westen stand für die Sechziger-Jahrgänge, die auch schon eine „Generation dazwischen“ genannt wurden, das zähe Gefühl der aufgehobenen Überflüssigkeit im Vordergrund. Für eine aktive Teilnahme an den Studentenprotesten waren sie zu jung, für die beschwingte Begeisterung am Techno zu alt, und ihre Eltern hatten mit „unerhörter Tatkraft“, wie Gustav Seibt in der SZ schrieb, „jenen Wohlstand geschaffen, in dem die heute vierzigjährigen Babyboomer und ihre noch verzärtelteren Geschwister von der ,Generation Golf’ aufwuchsen“. Vom Kampfbegriff der Generationengerechtigkeit könnten die heute Siebzigjährigen nach solchen Leistungen kaum beeindruckt werden. Wir stellen sie uns, noch mit Seibt, sonnengebräunt auf Mallorca vor und geben auch ihnen, jetzt ohne Seibt, einen Namen: die Marshallplan-Generation.
Ihr Logo ist das historisch ausgesprochen kurzlebig gebliebene Kleinfamilienhaus, mit dem sie den westdeutschen Stadtrand bestellt hat. In ihm sah sie am Dienstagabend „Dallas“ an, und Mittwoch morgens fuhr die Mutter mit dem Zweitwagen in die Stadt, dessen historischer Kern, war er nicht zerbombt, nach dem Krieg mitleidlos abgerissen worden war. Auf die künstliche Brache hatte man, unerhört tatkräftig, Kaufhallen und Verwaltungsgebäude gestellt.
Die Kinder dieser Eltern versuchten sich eigene Leben im Vakuum stabiler, wenn nicht statischer Gesellschaftsverhältnisse zu basteln, in denen es nur die Logik des Marshallplans gab: Tu dies und du wirst jenes erhalten, ob du willst oder nicht. Die Zahl der Abiturienten stieg stetig, jeder einzelne sollte es einmal besser haben als die Eltern, immer besser. Die Zahl der Studenten stieg also auch, mit ihr aber auch die der Studienabbrecher, Studienfachwechsler, Langzeitstudenten, Umschulungen und schließlich die der Tischlerlehrlinge mit Prädikatsabitur. Sie alle vereinte das Gefühl, dass es eigentlich ganz egal ist, was genau man macht, Hauptsache man bringt die Zeit rum.
Orientierung war von den eingleisigen Marshallplanern nicht zu erwarten. Man war traurig und konnte sich nicht entscheiden zwischen dem aussichtslosen Wunsch, irgendwie auch mal wichtig zu sein, oder dem bestenfalls noch existenziellen Anspruch, aus der Pflicht zum Glücklichsein keine banale Schnäppchenjagd zu veranstalten: Fernreisen wurden bezahlbar und populär, halfen aber nicht weiter.
Das Gefühl der Indifferenz entsprach der Ahnung, einer Lüge aufzusitzen und dass diese Lüge fürchterlich sei. Die Marshallplaner hatten darüber bestens, vielleicht besser als je eine andere Generation, Bescheid gewusst: Als Kinder, genau in der Zeit der Bewusstwerdung und charakterlichen Bildung, haben sie die Nürnberger Prozesse erlebt, von denen niemand wird behaupten wollen, nichts von ihnen gewusst zu haben. Die Großeltern von heute haben als Kinder gemacht, was diese aus vitalem Interesse am besten können: Sie haben ihre Umgebung sehr genau und kritisch beobachtet, haben die Stimmlagen der Kommentatoren in Fernsehen und Radio gehört, haben die Gesichtsausdrücke ihrer Eltern gesehen, wenn sie sich über die Zeitung gebeugt und Bemerkungen zugeraunt oder Blicke gewechselt haben. Und dann haben diese Kinder sich ihren Reim darauf gemacht.
Die fürchterlichen Wahrheiten, die in den Kinderköpfen und Kinderherzen unserer jetzigen Rentner Eintritt zu einer Gefühlswelt verlangten und bekamen, haben dreißig Jahre später in den jugendlichen Herzen ihrer Kinder Spuren hinterlassen: Haben die Studenten 1968 vielleicht noch die Wut ihrer Eltern über sich selbst ausgedrückt, so weinen die Babyboomer den in ihren Eltern vergrabenen sprachlosen Schmerz, und wenn das Anmaßung ist, dann muss man sagen: Kinder sind halt so. Auch wenn die Eltern davon nichts wissen wollen und auf der Treppe vor dem Kleinfamilienhaus lieber Fotos schießen und dabei denken, so Seibt, dass „die traurigen Abkommen, die ja nicht einmal für Kinder gesorgt haben“, ohne Rente dastehen und kaum zu Pietät Anlass geben werden.
Die derart fühllos Gescholtenen stehen einer Extrapolation der Rentenbeiträge für das Jahr 2040 oder 2050 aber nicht nur aus Gründen des anderen Empfindens von Zeitmaßstäben ganz teilnahmslos gegenüber. Sie kommen gar nicht auf die Idee ihrer Eltern, ihre Zeit isoliert auf sich zu beziehen. Oder hat man je Klage von ihnen gehört, dass die Gleichung des Marshallplans seit dem Ende des Sozialismus gar nicht mehr gilt? Dass ausgerechnet jetzt, wo man eigentlich selbst Kinder zu erziehen hätte, die deutsche Einheit zusammen mit den Schulden aus vierzig Jahren Aufbau abzuzahlen sei, vom Preis der Systemschwäche Überproduktivität ganz zu schweigen? Oder darüber, dass die oberen Etagen der Kleinfamilienhäuser in Nürnberg, Augsburg und Oldenburg leer stehen, zum Erhalt der von niemandem benötigten Bausubstanz geheizt werden und die nächste Explosion der Mieten bevorsteht? Dass sie nicht nur in Berlin, dem größten Sanierungsgebiet Europas, mühselig Altbauten sanieren, in denen die Geschichte erzählbar wird, statt, was viel billiger wäre, abermals alles abzureißen, Neubauten hinzustellen und den Rest des Lebens mit einem Kater zu verbringen, weil keiner mehr weiß, was gestern war? Zum Glück nicht.
Einerseits wäre es lächerlich. Andererseits sind gerade die Babyboomer weder mit jener Potenz zum Jammern ausgestattet, mit der ihre Eltern noch heute dauernd über sie herfallen, noch mit einer Bettelhand. Im Windschatten von 1968 ist es nicht nur die Sanierung von Altstädten und anderer Altlasten beider deutscher Nachkriegsstaaten, die sie trägt. Darüber hinaus füllt sie die kulturelle Lücke, in der sie aufwuchs, mit Leben, und das ist für die Zukunft des Landes von weit größerer Bedeutung als ein paar Ziffern vor oder hinter dem Komma des Rentenbeitrages.
Unter der Tatkraft derjenigen, die in den Siebzigern die Schule schwänzten, um hinter der Kirche Haschisch zu rauchen, entwickelt sich die deutsche Gesellschaft heute. Nicht nur geht man heute öfters mal bei Rot über die Ampel und bringt dem eigenen Kind somit bei, dass nicht das rote Licht, sondern ein Auto die potenzielle Gefahr darstellt: Man tut das sogar als Vater. Während man an Fragen der Rechtschreibung desinteressiert ist, geht man mit den wenigen Kindern, die man sich leisten kann, sonntags zum Fußball und redet anschließend sogar mit ihnen darüber. Es kann vorkommen, dass man die Ferien um einen Tag verlängert und immer noch keine Mikrowelle hat.
Dafür bietet man seinen Kindern Lebensentwürfe an, die variantenreicher nicht sein könnten und weder auf bedingungsloser Autorität noch auf rücksichtslosem Konformismus beruhen. Und dieses in den teuren Sanierungsgebieten gelebte Klima ist nach den grauen Jahren der ideologischen, affektiven Systemkritik, der einseitigen Geschlechterdebatte und der Eiszeit in den Betten nicht umsonst zu kriegen: Trennungsquoten von Eltern sind hoch. So hoch, dass man längst erkennen muss: Mit dem Ende des Kleinfamilienhauses, dieser Heimat der Engstirnigkeit und Brutstätte verkorkster Biografien im Gewand der Altersvorsorge, ist eine neue Kultur auf dem Weg. Die steigenden Zahlen berufstätiger Mütter und erziehender Väter sind der Beginn einer neuen Gesellschaft.
Nichts dabei gegen die Billiarden, welche die Marshallplaner vererben oder besser auf Mallorca vertrinken. Aber auch wenn dieses Land mittelfristig weitere Anteile am weltweiten Neuwagenabsatz an asiatische Länder abgibt: Am Erbe der Babyboomer, obwohl es nicht auf ein Polaroidfoto passt, wird unter Tränen gearbeitet.
Die lebendigere, dynamischere, zur Selbstreinigung fähigere Gesellschaft wird auch wieder materielles Kapital, Wohlstand und vor allem Stabilität aus ihren Fertigkeiten schlagen können. Neue Flexibilität und Geistesgegenwärtigkeit, die von Regierung und Opposition erträumt werden, sind jedenfalls längst auf dem Weg. Und kleine Gesten der Versöhnung gibt es auch schon: Heute hört man die Großeltern oft zu ihren getrennt lebenden Kindern sagen, dass dies ja besser sei, als ein Leben lang in den Handschellen einmal getroffener Entscheidungen und dem Haus der starren Rituale eingesperrt zu bleiben. Im Moment sind wir noch mitten im Übergang, aber: Die Nachkriegszeit geht mit dem Bezahlen der letzten offenen Rechnungen durch die Babyboomer definitiv zu Ende. Etwas befreiter werden spätere Generationen arbeiten können.

© Ralf Bönt