Was läuft hier richtig?

Eine kleine Geschichte des Optimismus

               Das Maß ist reine Spannung.
                                         Albert Camus

Vor zwei Jahren brachte der Astrophysiker und Präsident der ehrwürdigen Londoner Royal Society Martin Rees ein Buch heraus, in dem er die Wahrscheinlichkeit der heutigen Zivilisation, bis ins Jahr 2100 zu überleben, auf 50% schätzte. Gefahren drohten, so Rees, weniger von der Natur und ihren Katastrophen als von Menschenhand: Atomtechnik, anthropogene Klimaveränderungen, Bio- und Nano-Technologie, Robotik und Terror würden uns in den Rücken fallen. Ein besonders schwerer Fall von Pessimismus, möchte man meinen. Denn gerade den Forscher hat man schließlich eher als notorisch Gutgläubigen vor Augen, der lieber unkritisch als warnend dem eigenen Tun gegenüber steht. Und muss ihn nicht auch ein ans Unmögliche grenzender Optimismus antreiben, die Welt immer weiter verbessern zu können? Wie in Rage geredet kennen wir den Forscher seit der industriellen Revolution, in welcher er das Kindbettfieber bezwang oder billige Energie bereitstellte. Hätte er nicht den praktischen Zweck im Auge gehabt, es wäre nie soweit gekommen.
      Auf dem meist vernebelten Höhenweg dorthin waren Ziel und Absicht zwar nicht immer gut zu erkennen. Aber schon der Frühaufklärer Leibniz ordnete die Erkenntnis letztlich dem Nutzen unter, wenn er der Meinung war, dass die Welt die beste aller möglichen sei und jeder Mensch die Fähigkeit zur vernünftigen Lebensführung besäße: Grundsätzlich herrsche doch göttliche Harmonie. Wer die Schönheit der Natur, wie etwa in den Bewegungen der Planeten erkenne, der achte „alle anderen Ergötzlichkeiten dagegen gering.“ Von Leibniz’ Zeitgenossen wurde die Harmonie auch tatsächlich überall entdeckt. So formulierte Antoine Lavoisier 1789 den sensationellen Erhaltungssatz der Materie, demzufolge in einer chemischen Reaktion nichts erzeugt oder vernichtet, sondern alle Stoffe nur umgewandelt würden. Auch in der Physik dominierten Vorstellungen von Kontinuität, Leonhard Euler schrieb in seinen Briefen an eine deutsche Prinzessin: „Ich behaupte, dass die Elektrizität nichts anderes als eine Störung im Gleichgewicht des Äthers sey.“ Und Lavoisiers Freund Benjamin Franklin verstand den Strom als puren Ausgleichsvorgang. Es war die Zeit der Abkehr von Newtons mechanistischem Weltbild der Körper und ihrer Kräfte hin zu den Wellenfeldern, quasi ein Übergang vom Digitalen zum Analogen, der damals als größter Fortschritt galt. Diesem sollte ein anderer Engländer auf sehr technischem Wege zum endgültigen Durchbruch verhelfen: Michael Faraday.
     Der Buchhändlerlehrling und Laufbursche ohne gediegene Schuldbildung erklärte den Zusammenhang von Elektrizität und Magnetismus, als er 1821 zeigte, dass ein von Strom durchflossener Leiter um einen Magneten rotiert. Er hatte den ersten Prototyp eines Elektromotors gebaut. Zuvor hatte Faraday die Bierkutschen beobachtet, wie sie im Londoner Regen unter seinem Fenster über das Kopfsteinpflaster ratterten und im Regenwasser, das auf den Fässern stand, Ringwellen erzeugten. Dass sie dieselben Naturgesetzte repräsentierten wie die Eisenfeilspäne um einen Magneten, musste man erst einmal verstehen. Dass dies die erste vereinheitlichte Theorie auf der Welt war: umso schöner. Zehn Jahre später war es wieder Faraday, der aus dieser Theorie auch den umgekehrten Weg erschloss: Wie man aus Bewegung Strom herstellt, mittels elektromagnetischer Induktion nämlich. Mit dem Dynamo ließen sich endlich die Maschinen betreiben, welche die arbeitende Klasse in England aus ihrer elenden Lage befreien sollte.
Die Probleme nahmen allerdings noch lange kein Ende: Woher die Energie nehmen? Faraday eilte zur Themse, hängte einen langen Draht ins Wasser und wartete auf das Hereinkommen der Flut, welche die Richtung des Erdmagnetfeldes veränderte wie eine große Linse die Richtung eines Lichtstrahls. Flösse im Draht Strom, so hätte er ein Kraftwerk ersonnen, das sauber und quasi kostenlos wäre! Patente hat er eh niemals angemeldet, das wäre unter seiner Würde gewesen. Nur war der Effekt der Flut für seinen Zweck leider viel zu klein. Es sollte bis zur nächsten Jahrhundertwende dauern, dass die Welt der Elektrifizierung unterzogen wurde und der erste große Modernisierungsschub seinen Höhepunkt erreichte.
Allerdings hatte er seine Schattenseiten, in den USA etwa tobte zuvor der Stromkrieg zwischen Thomas Alva Edison und Nikola Tesla. Der gebürtige Serbe Tesla hatte den Wechselstrom erfunden, der im Gegensatz zum Gleichstrom verlustarm über weite Distanzen transportiert werden kann. Edison, der befürchtete, seine Glühlampen nicht damit betreiben zu können, oder weil er seinem ehemaligen Angestellten sowieso nichts Gutes gönnte, scheute keine Schmutzkampagne, um diesen neuen Strom als sehr gefährlich hinzustellen. Vor Publikum ließ er hunderte Katzen und Hunde per Stromstoß töten, dann medienwirksam einen renitenten Elefanten. Schließlich kam zum ersten Mal ein zum Tode verurteilter Mensch auf einen elektrischen Stuhl. William Kemmler starb 1889 unter Qualen erst beim zweiten Versuch. Teslas Antwort: Er ging öffentlich durch künstliche Blitzfelder mit tausenden Volt, um die Ungefährlichkeit seines Stromes zu beweisen. Aber umsonst, im selben Jahr wurde in der Münchner Vorstadt Schwabing die weltweit erste komplett elektrische Straßenbeleuchtung eingeweiht, eine Gleichstromanlage der Firma Einstein & Cie.
Erst 1893 setzte sich Tesla auf der Weltausstellung in Chicago mit einem gigantischen, von Wechselstrom betriebenem Lichtermeer durch. Er baute ein Wasserkraftwerk am Niagarafall. In München verwirklichte Oskar von Miller sein Projekt des „sozialen Stroms“, indem er billige Energie vom Walchensee in die Stadt brachte. Der Traum, den Menschen von schwerer körperlicher Arbeit zu befreien, war Realität geworden.
Das Verhältnis der Wissenschaft zur Gesellschaft aber taumelte in eine Krise. Tesla entwickelte zeitgleich mit anderen die drahtlose Telegrafie, die für manchen Zeitgenossen, der sie nicht erlebt, sondern nur von ihr gehört hatte, von der Telepathie kaum zu unterscheiden war. Der längst eingebürgerte Tesla galt seit seinen Blitzversuchen als Magier. Er behauptete, Boote mit der Radiotechnik fernsteuern und im Krieg damit Tausende Tote einsparen zu können, fand jedoch keine Investoren. Sein Freund Mark Twain schrieb ihm aus Europa: „Letzte Nacht habe ich mich hier im Hotel mit einigen interessierten Männern unterhalten, die Wege diskutierten, wie man die Nationen überzeugen könnte, sich mit dem Zar zu verbünden und abzurüsten. Ich riet Ihnen sich nach was Besserem umzusehen, als nach einer Abrüstung von leicht verderblichen Papieren: Ladet die großen Erfinder ein, um etwas zu ersinnen, gegen das Flotten und Armeen hilflos wären und das damit Kriege zukünftig unmöglich machte.“ Politik und Finanzwelt trauten ihnen jedoch nicht.
Die Öffentlichkeit verlor jetzt den Kontakt zur Wissenschaft, die in den kommenden zwei Jahrzehnten schier unglaubliche Erkenntnisse zutage förderte. Die Antimaterie wurde entdeckt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es bald darauf zum folgenreichsten Missbrauch des wissenschaftlichen Gestus kam. Hannah Arendt sprach von der Weltentfremdung als Kennzeichen der Neuzeit. Und Einsteins Verzweiflung nach dem Abwurf der Atombomben, deren Bau er aus Angst vor den Nazis gefordert hatte, ist
 bis heute nicht zu vergessen.
Dabei ist der Optimismus grundsätzlich gerechtfertigt, wie ein kalter Blick auf den Gang der Geschichte zeigt. Denn Gewalt auf der Bühne, wie sie etwa Edison vorführte, ist nicht mehr möglich. Darauf weist der Psychologe Steven Pinker von der Harvard University auf der website edge hin, auf der er zusammen mit 160 anderen Kollegen und Kolleginnen auf die Frage antwortet, was sie für 2007 optimistisch mache. Es möge überraschen, so Pinker, aber die Gewalt habe seit Jahrhunderten drastisch abgenommen. Der Völkermord als gängige Form der Konfliktlösung, das Attentat zur Erbfolgeregelung, Exekution und Folter als Strafe, Sklaverei aus Faulheit und Habgier seien heute Seltenheiten und, wo sie aufträten, Gegenstand heftiger Kritik. „Was lief hier richtig?“ fragt Pinker, und stellt fest, dass wir wenig zu antworten wissen. Dies läge wohl daran, dass wir immer danach fragten, warum es Krieg gibt, und niemals, wieso der Frieden da ist.
Vermutlich aber, so der Psychologe weiter, ist diese überraschende, von vielen Untersuchungen bestätigte Entwicklung dem Umstand zu verdanken, dass jeder, für den Schmerz, Tragik und Sterben keine täglich zu erwartenden Erlebnisse mehr sind, höhere innere Schwellen überwinden muss, um anderen gleich Übles zuzufügen. Zudem ist in einer technisierten Welt der gegenseitigen Abhängigkeiten der andere lebendig wertvoller denn tot. Je mehr man denkt und weiß, so Pinker, desto schwerer ist es auch, die eigenen Interessen grundsätzlich über die von anderen zu stellen. Pinkers dezidierter Optimismus versteht sich als Hoffnung und richtet sich nun schließlich darauf, dass der Rückgang der Gewalt tatsächlich vor sich geht, dass er ein Produkt systematischer Kräfte ist und wir diese Kräfte in Zukunft identifizieren können.
Die Aktion von edge kommt zum richtigen Zeitpunkt, denn die rückwärtsgewandten Kräfte in der Weltpolitik entfachen ihren Religionshype und seine antiquierten kriegerischen Auseinandersetzungen gerade an Schnittstellen der jetzt erneut beschleunigten Moderne mit der noch nicht säkularisierten Welt. Letztere befindet sich dabei wohl nur im Rückzugsgefecht.
Der Erkenntnistheoretiker Daniel C. Dennet sieht gar einen sicheren Niedergang des Religiösen, das eines Tages so uncool werde, wie es heute das Rauchen durch pure Einsicht geworden ist. Ideellen Eifer hält Dennet für den letzten Versuch, der nachkommenden Generation die Augen und Ohren für jede Art von Information zu verschließen, ein Versuch, der schon heute nicht funktioniere. Denn auch wenn Evangelikale um G. Bush oder der radikale Islam Zulauf haben: Die Gemeinde der Nichtreligiösen wachse weltweit viel schneller. Nur die asymmetrische Explosion der Informationsversorgung, die vor allem Ältere von Jüngeren scheide – wie Arme von Reichen, möchte man anfügen – sorge noch für Diskrepanzen und Reibung. Zwar seien diese nicht zu übersehen, und sie würden noch für manche Auseinandersetzung sorgen, aber die reichen, mit bunter Funktionskleidung und MP3 Playern ausgestatteten Jugendlichen, die in den Bergen nördlich von Teheran Snowboard fahren, zeigen, dass Dennet Recht haben mag.
Die Sammlung der Antworten hält manche Information bereit, die bereits in der Welt, aber noch nicht in der Öffentlichkeit ist. Stewart Brand, Mitbegründer der Long Now Foundation, weist auf die rasante Verstädterung der Welt und dem mit ihr einhergehenden massiven Rückgang der Geburtenrate hin.  Mehrere  Autoren preisen den Internetboom in Afrika, der den verlorenen Kontinent in Übergehung des Fernsehens schnell aus seiner Rückständigkeit holen wird.  Brian Eno ist optimistisch, weil die Akzeptanz der Erderwärmung das größte Versagen des Marktes transparent gemacht habe. J. Craig Venter erwartet eine Revolution der Entscheidungskultur, wenn außerhalb der Wissenschaft ihre jüngsten Methoden übernommen werden. Diese beruhten vor allem auf dem Erkennen irrelevanter Informationen. Die Zukunft ist also kein Überwachungsstaat.
Einen Schritt weiter geht Nobelpreisträger Frank Wilczek. Er ist optimistisch, dass es die letzte, alles erklärende Theorie, die als „Einsteins Traum“ bekannt ist, nie geben wird. Man sollte seine Worte besser wählen, meint der Physiktheoretiker und lässt eine unter seinesgleichen seltene Demut gegenüber der Schöpfung erkennen. Hier blitzt vielleicht die Intelligenz des 21. Jahrhunderts auf, die immer bessere Lösungen in praktischen Fragen anstrebt, nicht aber durch vermeintlich endgültige Antworten zu fundamentalen Rätseln des Daseins ins Ideologische zurückfällt, das noch immer im Mörderischen endete.
Martin Rees, dessen  Royal Society übrigens einst den Prioritätenstreit zwischen Newton und Leibniz um die Infinitesimalrechnung falsch zu Gunsten des Engländers entschied, äußerte sich übrigens auch: Er habe viele Zuschriften bekommen, sein Buch sei noch beschönigend und er ein unverbesserlicher Optimist. Das, schreibt er nun, wolle er bleiben. Dennet gibt zwar zu, an schlechten Tagen den düsteren Szenarien seines Kollegen anhängen zu können. Als größte Gefahr macht er jedoch etwas anderes als der Physiker aus: die gute alte Überreaktion. Möge er gehört werden, denn es ist allzu leicht, sich Einsteins weises Nicken dazu zu denken.

© Ralf Bönt