Das Wesen der Mode besteht aus dem Furor der schieren Neuartigkeit und ihrem gleichzeitig schon vereinbarten Ende. Was auch für die Mode von Verboten gilt.
Zuletzt war die Einfachheit angesichts der Unübersichtlichkeit verboten, was man beiläufig postmodern nannte und manches Mal mit der modernen Physik begründete. Heute ist das Neue Erzählen der letzte Schrei. Geschichte und Biografien sind wieder linear, Romane sind wieder lesbar und Verkaufszahlen das Maß aller Dinge. Dabei gilt strikt: Je schneller desto besser. Diese neue Mode der Eindeutigkeit ist wiederum eine Mode des Verbots und verboten ist jetzt die Transzendenz.
Zwar meinte schon Albert Camus im Ton der damaligen Neuen Sachlichkeit, dass die Abbildung der Welt notwendig ihre Vergröberung beinhalte. Bei dieser Vergröberung handelt es sich aber gerade nicht um einen Teil des technischen Arbeitsganges, in dem ein Text Stück für Stück verfeinert wird, bis er vollständig und das heißt: einfach schön ist. Diese Verwechslung zwischen Arbeit und Produkt unterlief Martin Hielscher, als er zu Beginn der Debatte um das Neue Erzählen unter anderem auch die Subtilität forderte, also etwas, das er auf dem notwendigen Weg zum besseren Verkäufer eigentlich abschaffen wollte. Hier hatte sich die ideologische Motivation ins falsche Argument fortgepflanzt. Der Kreis schließt sich heute im Vorwurf der Belanglosigkeit, des fleischlosen l’art pour l’art, der gegen manches neue Buch erhoben wird. Und man orientiert sich bereits neu. Camus hingegen ist über den Verdacht der unzulässigen Vereinfachung natürlich trotz Lesbarkeit ganz erhaben.
Die Frage nach dem Mehrwert aber stellt sich immer. Das Maß der Schrift war dabei und wird auch in Zukunft ihre Repräsentanz sein, ihre Exemplarität, ihre Fähigkeit, kurz und bündig Welt darzustellen. Was einmal wirklich wahr gewesen ist, das bleibt es auch, ohne dass wir genau wüssten, was „es“ eigentlich und „an sich“ ist. Es kann bloß neu gelesen und ergo auch wieder neu, vielleicht besser, geschrieben, aufgeschrieben werden. Diese Rückbindung an die gegebene Welt ist, was Schrift überhaupt erst zur Schrift macht. Stilfragen ordnen sich da als zeitgemäße Erregungen unter.
Diese Erregungen schlagen jetzt hohe Wellen. Als ob man der Jahrtausendschwelle nach dem ausgefallenen Computer-Gau doch noch die Referenz erweisen wollte, stellen sich die Fragen nach der Transzendenz der Schrift jetzt auch im göttlichen Sektor neu: Die heiligen Buchstaben der Gene und des Körpers sollen ein rewriting erfahren, Gentechnik und neue Computerchips verändern die Welt und den Menschen von Grund auf. Schon treten Kulturpessimisten und skrupellose Technophile gegeneinander an. Erstere, wie der Computerspezialist Bill Joy, sprechen von der Ablösung des Menschen durch den Rechner und fordern Verzicht. Da handelt es sich aber doch um den Wunsch des Vaters nach dem Supersohn, der ihn auf der Zielgeraden dann plötzlich zu Tode erschreckt. Ein wenig wirkt es aber auch wie die simple Umkehrung der Bioromantik, die man bei den frühen Grünen erlebte. Da hatte man noch die Welt vor dem Menschen retten wollen, was ein philosophisch höchst amüsantes Unterfangen ist.
Widerspruch auf seine Forderung nach Verzicht auf Entwicklung erhielt Joy auch von seinem Kollegen Ray Kurzweil, dessen Buch „The Age of Spiritual Machines“ im Deutschen bei Kiepenheuer und Witsch bezeichnenderweise unter dem banalisierenden Titel „Homo S@piens“ erschien. Kurzweil hält die Entwicklung für nicht aufhaltbar, vielmehr sieht er in Zukunft „jede Art von Produkt zumindest theoretisch“ für „sofort“ herstellbar. Aber zur Erinnerung: Das Wassermolekül ist nicht gerade, sondern weist einen Winkel von 108° auf. Daran ist die Quantenmechanik schuld. Als Folge des resultierenden Dipolmomentes gibt es eine in der Natur sehr seltene Oberflächenspannung, die der Wasserfloh nutzt, und Eiswürfel schwimmen im Whiskyglas oben. Das bleibt. Und auch, dass man einen Ölfilm niemals mit Wasser wird abwaschen können, kann die feinste Nanotechnik in keiner denkbaren Zukunft ändern. Ein so großer Fisch ist der Mensch vielleicht doch nicht, vielmehr ist die göttliche Schrift erst mal stabil. Die Klassische Mechanik wurde durch die Quantentheorie auch nicht widerlegt, sondern ergänzt. Und Einsteins skeptisches Wort, dass Gott nicht würfeln würde, ist heute im Rahmen der mehrwertigen Logik, die der Quantentheorie zugrunde liegt, in gewissem Sinn bestätigt. Denn die Physik ist beileibe kein Roulette und keine weniger exakte Wissenschaft geworden. Das wissen wir nicht erst seit Alan Sokal.
Für Helmut Satz, Professor für Theoretische Physik in Bielefeld und am CERN in Genf, ist der Computer auch „nur so schlau, wie derjenige, der ihn bedient.“ Heute sind für Satz zwar Aufgaben lösbar, die vor wenigen Jahrzehnten noch unzugänglich waren. Dabei allerdings erhält er nur „ganz präzise Antworten auf ganz präzise Fragen, so dass man sich unabhängig davon doch selbst ein Bild machen muss, für das, was tatsächlich passiert.“ Sein Kollege Frithjof Karsch, mit dem zusammen Satz an der Simulation des sogennanten Urknalls arbeitet, um die Herkunft des Universums besser zu verstehen, weist darauf hin, dass es „natürlich schon eine Wechselwirkung gibt, in dem Sinne, dass man die Fragestellung an die Möglichkeiten des Rechners anpasst.“ Eine mythische Überhöhung sucht man unter diesen Vollprofis von Computernutzern erwartungsgemäß vergebens. Einen Quantencomputer, wie ihn mancher erträumt, hätten sie durchaus gern und begrüßen jede Ambition in dieser Richtung. In naher Zukunft sehen sie ein solches Gerät, laut Karsch „die Neuerfindung des Transistors auf dem atomaren Niveau“ nicht realisiert. Vielmehr arbeiten sie gerade an einem „vergleichsweise konventionellen“ Rechner und hoffen auf eine Leistung von 10 bis 50 Terraflops im Jahre 2005. Im Leibniz-Institut München sind heute 1,3 Terraflops erreicht. In dieser Techologie spielen Quanteneffekte zwar schon eine Rolle, man muss unter Berücksichtigung der Lichtgeschwindigkeit z.B. die Kabellängen optimieren, um tausende von Prozessoren synchronisieren zu können. Dies ist aber genau ein Minimieren von störenden Quanteneffekten. Der Standort ist daher heute exakt vor der Grenze der Mikrophysik, und der Moment des Überspringens noch nicht da. Die äusserliche Miniaturisierung und der Einbau in den menschlichen Körper ist begonnen, aber „den Quantenrechner”, sagt Helmut Satz, „gibt es nicht, und man kann ihn nicht abschätzen bisher.“
Ein paar Türen weiter auf dem Bielefelder Flur der Theoretischen Physik trifft man auf grundsätzlichere Skepsis in Bezug auf das Können der kleinen Gesellen. Professor Reinhart Kögerler betreibt sein Handwerk noch mit dem Bleistift oder der Kreide. Auch er sieht den Computer als einen, „der tut, was ihm beigebracht wird.“ Das Lernen selbst könne dieser algorithmischen Maschine zwar auch beigebracht werden. Aber selbst bei Vernachlässigung von so schwierig zu fassenden mentalen Phänomenen wie etwa Wünschen oder Ahnungen unterscheide die Wissenschaftstheorie zwei Aspekte des Denkens: Das Erfinden von Theorien und deren Verifizierung. Zu jedem forschenden Handeln gehört diese beiden Partner definitiv zusammen. „Dabei ist man der Ansicht,“ so Kögerler, „das selbst der Beweis nicht vollständig mit algorithmisch gefasst werden kann. Ich kann deswegen nicht hoffen, dass die Maschine den Menschen ersetzen kann, vollkommen unabhängig davon, ob ich es mir wünschte.“ Den qualitativen Sprung, den uns die Informationstechnologie liefert, prüft er in seiner Arbeit daher immer auf seine Nützlichkeit, wobei ihm der Rechner abermals nicht helfe. Die größere Skepsis entsteht hier auf eine andere Weise, Kögerler sieht viel Zeit mit dem Lösen der von der Sprache der Technik lösbaren Probleme verwendet, während man Anderes zunehmend vernachlässige: „Man wird ein bisschen im Denken flach,“ summiert er diese sekundäre und vielleicht temporäre Gefahr.
Dennoch geht es jetzt um wesentlich mehr als Mode, Euphorie oder Verdrossenheit. Schon bei Goethe ging mit der Suizidwelle nach dem Werther die Schrift über sich selbst hinaus. Unfälle, deren zeitlichen Ablauf niemand kalkulieren kann, inklusive. Dies zeigt sich heute in immer neuen Ergebnissen, am deutlichsten wohl in der Genetik. Schon lange buchstabiert der Mensch etwa den Informationsgehalt der Erbmasse täglich um: Die Verabreichung von Insulin etwa erhöht den Anteil der Diabetiker direkt und über die Nachkommen auch indirekt. So ist die lebensverlängernde Therapie, ja selbst die Prophylaxe bereits ein Eingriff in die kollektive Keimbahn. Und nur wegen ihrer Handhabbarkeit ist die Diabetes heute auf dem Weg zur Volkskrankheit. Man kann also nicht grundsätzlich gegen die Gentechnik sein, weil sie so grundsätzlich selbst gar nicht ist. Einschneidend ist jetzt aber das Tempo, mit dem die Forschung neue Türen öffnet. Fragt sich nun, was man vom Möglichen in Zukunft durchführen will, aber vorher noch, was das Mögliche überhaupt ist: Würde ein geklonter Jan Ullrich intensiver trainieren? Unter welchen Umständen? Und welcher Art wäre die Freude daran? Es sind weniger Grundsatzfragen als detaillierte Stilfragen, die sich stellen, vergleichbar derjenigen nach der Kernspaltung, aber vielleicht tausende an der Zahl. Darf man Organe züchten, solange Millionen an Hunger sterben? Muss man die Landwirtschaft revolutionieren, damit noch mehr Menschen ernährt werden können? Was ist das nächste Problem? Diese fehlende Grundsätzlichkeit macht die Zukunft nicht einfacher. Aber wer hat schon das Recht auf eine einfache Zukunft?
Mit ökonomistischen Argumentationen, wie Kurzweil sie andeutet (F.A.Z. vom 17. Juni), kann man sich dabei am wenigsten helfen, denn zum Geldverdienen reichte auch ein globales Rüstungsprojekt mit Online-Bestellung. Nein, die Gestaltung des Machbaren erzwingt ganz neue Strategien der Bewältigung, und noch fehlen dazu die Ideen. Das Programm der Evolution heißt ja: Stillstand ist Rückschritt, da nichts still steht. Das momentane Tempo an vielen Fronten allein sorgt für den Paradigmenwechsel. Man steht vor einem qualitativ neuen Problem, auf das die Evolutionstheorie heute nicht verlässlich antworten kann. Jedes einzelne Produkt muss diskutiert werden: Eine riesige Aufgabe für die Wissenschaft. Vielleicht entsteht ein neuer Berufsstand. Denkbar ist die Organisation der medialen Entwicklung zur Beherrschung des Informationsbedarfs. Es dürfte ein labiles Gleichgewicht sein, auf das es dann ankommt. Selbstverständlich ist dieses nicht. In einem solchen Modell käme auch die Ökonomie zu ihrem Recht. Wird sie sich und uns selbst organisieren? Zweifel dürften erlaubt sein.
© Ralf Bönt