Neue Züricher Zeitung, 23.11.20
Es ist seltsam, dass den berühmten drei Kränkungen des modernen Menschen
immer wieder weitere hinzugefügt werden. Nachdem Kopernikus die Erde aus
der Mitte der Welt rückte, Darwin den Menschen als besseren Affen beschrieb
und Freud ihn als Apparat seiner Triebe sah, degradierte ihn die Soziologie zum
Teil eines Netzwerkes, und Neuropsychologen sprachen ihm den freien Willen
ab, weil er nur eine an ein vorprogrammiertes Hirn angeschlossene Maschine
sei. Evolutionär orientierte Biologen hielten ihn für die Einwegverpackung
egoistischer Gene, die sehr wohl einen Willen hätten, nämlich den, sich zu
kopieren. Die beste Ökonomie haben dabei die Viren. Der Dramatiker Heiner
Müller nannte den humanen Organismus denn auch eine Virenkneipe.
Seltsam ist diese Mode, weil Erkenntnis kein Rückschlag sondern ein natürlicher
Wachstumsprozess ist. Erkennen ist das Motiv des Erwachsenwerdens, in dessen
Verlauf der Mensch ein innigerer Teil der Welt wird. So züchtete er erst
Nutzpflanzen und programmiert heute Viren auf die Zerstörung von
Tumorzellen. Auch am Anfang der Moderne stand keine Zurücksetzung, sondern
ein wirklich grosses Ankommen: Die Schönheit des heliozentrischen Weltbildes
lag in den plötzlich plausiblen Planetenbahnen.
Es war dann Johannes Kepler, der die Bahnen auf Umläufe um symmetrische
Vielecke bezog, die platonischen Körper. Die Entdeckung war ein Beweis für die
Möglichkeiten, sich den Himmel besser zu erklären, immerhin jenen Ort also,
der gleichzeitig für die grösste Sehnsucht wie für die schlimmsten
Befürchtungen stand und Furchtsamkeit zur Tugend gemacht hatte.
Heute lächelt man über die Zeit, in der die Angst vor einem Kometen das
wichtigste Thema war, wie im November 1618, als man im ganzen Heiligen
Römischen Reich einen Schweifstern beobachtete und als Ankündigung eines
Krieges las. Man nahm die Erscheinungen noch gegenständlich, nicht als
abstrakte Schriftzeichen, hinter dem die eigentliche Bedeutung erst zu
entschlüsseln gewesen wäre: Was konnte der rasende Körper mit seinem Schweif
anderes als ein Angriff sein? Der Komet durchschlug auch die kristallenen
Schalen, welche die Planeten hielten. Weltordnung dahin: Rette sich wer kann!
Der Krieg kam, er dauerte dreissig Jahre.
Weite und Tiefe des Sternenhimmels sind jetzt kaum mehr zu sehen, aber wer
das Glück einmal hat, der versteht den einstigen Glauben, dass der Himmel die
Welt ist und alles in ihm Bedeutung hat. Zu denken, das ganze Spektakel sei
zufällig und an ihm nichts zu verstehen, wäre unproduktiv gewesen. Die
egozentrische Behauptung, all dies sei eh nur für den Menschen geschaffen
worden, kann man mit einem Augenzwinkern als psychologischen Trick gegen
die Nichtigkeit unter diesem Himmel entschuldigen.
Die Auffassung, in der Delegation der Verantwortung an himmlische Kräfte liege
Resignation, muss man jedenfalls nicht teilen. Man war ja versucht, Gott
freundlich zu stimmen. Goethe hat das in der Farbenlehre formuliert, als er über
Luther räsoniert: Dessen Schriften enthielten viel mehr Aberglauben als die von
Francis Bacon, dem Wegbereiter des Empirismus. Luther mache es sich bequem
durch seinen Teufel, mit dem er die menschliche Natur erkläre. Und doch sei er
ausserordentlich, denn indem er sich das ihm Widerstrebende recht hässlich,
mit Hörnern, Schwanz und Klauen dachte, sei sein heroisches Gemüt nur desto
lebhafter aufgeregt gewesen, dem Feindseligen zu begegnen.
Tatsächlich war der Mensch zu Luthers Zeit einer dreifachen Kränkung
ausgesetzt. Die Urkränkung besteht darin, nichts über den Himmel zu wissen.
Nicht einmal, was an ihm immer wiederkehrt und was bleibt, war bekannt.
Zweitens bestand die Kränkung darin, kaum Werkzeug bekommen zu haben, mit
dem man etwas in Erfahrung bringen könnte. Man konnte nicht näher
herangehen, um zu sehen, ob anstelle der leuchtenden Himmelskörper nicht
vielleicht doch Löcher im Zelt waren, durch die eine endlose Helligkeit drang.
Diese Verweigerung war existenziell angesichts der Stürme, Dürren und
Überflutungen, die Missernten, Krankheiten und Chaos nach sich zogen. Die
dritte und grösste unter allen Zurücksetzungen für den Einzelnen ist das
Verstreichen der Zeit bei begrenztem Aufenthalt. Der Mensch nimmt also diese
dreifache Demütigung hin: Er weiss nichts, hat keine Instrumente, um das zu
ändern und obendrein keine Zeit, welche zu bauen. Unwissend zu sein heisst,
nicht in der Welt zu sein. Der moderne Mensch hat nicht weniger geleistet als
die Sprengung dieses Teufelskreises.
Den damals noch unerkannten Beginn der modernen Welt begründete nach der
Historikerin Barbara Tuchman der englische Theologe und Philosoph John
Wyclif. Er übersetzte die Bibel und übertrug schliesslich die erlösende Kraft ganz
auf das Individuum. «Denn jeder Mensch», so Wyclif, «der verdammt sein soll,
soll durch seine eigene Schuld verdammt sein, und jeder Mensch, der gerettet
sein soll, soll durch sein eigenes Verdienst gerettet sein.»
Vielleicht ist das eine Überreaktion, gewiss ist es eine gewaltige Last.
Bemerkenswert, dass schon Wyclif den Sakramenten, insbesondere dem
Abendmahl, die heilende Wirkung absprach. Es sollte aber noch für viel Ärger
sorgen. In der inquisitorischen Denunziation des Kopernikaners Giordano Bruno
hiess es 1592, der Mönch habe bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt, es sei ein
grosser Blödsinn seitens der Katholiken, zu behaupten, dass Brot sich in Fleisch
verwandle.
Auch Kepler lehnte die Ubiquität, die tatsächliche Anwesenheit vom Leib Christi
im Abendmahl, um einen sehr hohen Preis ab: Er wurde nicht nur von einer
Berufung an die heimische Universität Tübingen ausgeschlossen, sondern auch
von der Teilnahme am Abendmahl. Ganz abgesehen von der Zuflucht, die Kepler
deshalb beim Wahlkatholiken und Kriegsherrn Wallenstein nehmen musste, hat
dieser Vorgang äusserste Tragweite. Er steht in seiner Bedeutung gewiss den
Thesen von Luther oder dem Imperativ von Kant nicht nach.
Jetzt leeren sich die Kirchen in atemberaubenden Tempo. Unsere Zeit, heisst es,
sei vom endgültigen Erlöschen der Religion gekennzeichnet. Es sei nicht gut,
dass kaum noch jemand wisse, welche Bedeutung die Feiertage haben:
Himmelfahrt etwa. Aber haben Menschen nicht eine Sonde auf dem Mars,
während eine andere nach einer Reise über vier Jahrzehnte und zwei Dutzend
Milliarden Kilometer sein Sonnensystem verlässt?
In dieser Gleichzeitigkeit liegt ein Verlust der Gegenwart. Sie scheint ein
verschütteter Tunnel, über dem sich Vergangenheit und Zukunft ineinander
geschoben und verkeilt haben: Fand schon Giordano Bruno die Lehre vom
eingeborenen Gottessohn provinziell und absurd, dann erleben wir jetzt den
Endpunkt einer Wende, die in Deutschland spätestens mit Keplers Widerstand
begann. Diese Wende muss eine Emanzipation sein, wenn sich die
Lebenserwartung bereits verdreifacht hat.
Doch so kalt kann man nicht rechnen. Wer vor der Gentechnik warnt, kann sich
darauf berufen, dass aus der Evolutionstheorie eine tödliche Rassenlehre und
aus der Atomphysik zuerst eine Waffe gemacht wurde. Das ist gegenüber einer
Zeit, in der man in einem Kometen eine Kriegserklärung erkannte, kein
Fortschritt, sondern das Gegenteil. Es bestätigt den Skeptiker in der Furcht, man
erkämpfe sich mehr Macht, um diese zu missbrauchen gegen die Welt oder den
Menschen. Im «Buch der Unruhe» schreibt Fernando Pessoa, dass die meisten
jungen Leute die Menschheit als Ersatz für Gott gewählt hätten. Das ist auch der
zentrale Vorwurf an die Moderne, die eine Anmassung sei und ins Verderben
führe.
Aber wieso sollte der Mensch das tun wollen? Und was daran sollte modern sein?
Wer den Menschen an Gottes Stelle setzt, macht nichts neues, sondern genau,
was die Kirche immer getan hat: den Gottessohn auf Erden sehen. Ludwig
Feuerbach sprach deshalb davon, dass der Mensch Gott nach seinem Bilde
geschaffen habe. Der wirklich moderne Mensch aber tut das Gegenteil: Er
ersetzt die göttliche Willkür und das Nichtwissen durch Kenntnis des
Naturgesetzes samt seinem Geltungsbereich.
Das ist der Grund, aus dem Albert Einstein über sein Weltbild schreibt: «Nicht
zu Unrecht hat mal jemand gesagt, dass die ernsthaften Forscher in unserer
allgemein materialistisch eingestellten Welt die einzig tief religiösen Menschen
seien.» Die Akzeptanz des Naturgesetzes ist eine höhere Form der einstigen
Gottgefälligkeit, doch der Paradigmenwechsel von der Willkür zum zwingenden
Gesetz wurde nicht verinnerlicht. Man hat angeblich allwissende Vertreter von
angeblichen Gesetzen Willkür üben lassen, ohne sie zu kontrollieren. Ihre
Ergebenen übernahmen nicht die Verantwortung für sich, von der Wyclif
gesprochen hatte.
Erkennt man den Paradigmenwechsel dagegen an, dann zieht nicht nur Effizienz
in menschliche Bestrebungen ein, die Religion erhält auch eine machbarere
Aufgabe. Der Wechsel vollzieht sich wie bei der Malerei nach der Erfindung der
Fotografie. Religion wird vom Tagesgeschäft erlöst. Sie stellt weiter die letzten
Fragen, weshalb sie auch nicht erlöschen kann. Die Wissenschaft stellt dagegen
immer die nächste Frage. Ihre Antworten sind vorläufig und konkret, und wo
keine mehr verfügbar sind, beginnen Kunst und Religion. Diese Grenze wird
ständig neu verhandelt, sie wird verschoben. Aufgelöst kann sie nicht werden.
Deshalb ist der Hohn ungut, den Wissenschafter oft für die Rituale der Kirche
und für ihre eigenen Ahnen von der Astrologie übrig haben. Einstein etwa
schrieb an den Kunsthistoriker Aby Warburg, dass Kepler «sich wohl geschämt
hätte, sein Futter durch ein so plumpes Spiel zu verdienen.» Das erzürnte den
Kunsthistoriker, denn Kepler war für ihn jene Figur der Bipolarität von
Astrologie und Astronomie, deren Überwindung ihn zur «weithin lodernden
Aufklärungsfackel» machte: Ohne Sterndeutung keine Gravitation.
Umgekehrt ist auch die Eifersucht des Pastors auf den Mediziner und
Astronauten überflüssig. Es wäre viel besser, Geistliche und Künstler einerseits
und Wissenschafter und Techniker andererseits würden ihre gemeinsame
Überzeugung anerkennen: Dass es eine ordnende Instanz in der Welt gibt, mit
der zu kommunizieren möglich ist. Der Germanist Manfred Schneider bemerkte
anlässlich der Pandemie, dass nach Psalm 53 derjenige ein Narr ist, der Gott
leugne, was in nachbiblischer Sprache heisse: «Ich glaube nur, was ich sehe.»
Umgekehrt weiss, wer bewusst auf Sicht fährt, dass er ein tausendjähriges Reich
nicht gründen kann.
Dass sich keine fruchtbare Koexistenz von Wissen und Glauben, von
praktischem Fortschritt und respektablem Umgang mit dem menschlichen
Drama etabliert hat, erkennt man an dem fehlenden Bewusstsein für die
Leistungen der Moderne. Nicht nur für Aby Warburg gilt die Entdeckung der
elliptischen Form der Planetenbahnen durch Kepler als Schritt in die neue Zeit.
Er gab die zwingende Vorstellung der Zentralität auf, denn die Ellipse hat
anstelle eines Mittelpunktes zwei Brennpunkte.
Das zu akzeptieren, hatte Kepler grosse Mühe. Schliesslich sprach er von der
Stampfmühle der Bahnkreise, an die er die Planeten fehlerhaft angebunden
habe. Umso mehr könnte man erwarten, dass heute die Ellipse im kulturellen
Gedächtnis, der Deutschen eine Rolle spielt. Aber das ist nicht so, obwohl das
Bundespräsidialamt Schlosspark Bellevue ein grosser elliptischer Bau ist. Ein
Hinweis auf Kepler fehlt. Deutschland, dieses vielleicht modernste aller Länder:
eine unbewusste Nation.
Weil er seine Errungenschaften als blosse Technizitäten abtut, steht der
moderne Mensch wackelig auf seinem Freiheitsbegriff, der sich der Wahrheit
verpflichtet. Dass er fünf Finger an der Hand hat und der Kreisel eine
Hypertrochoide beschreiben kann, mag zwar noch eines Gottes Wille sein, doch
dieser ist nicht mehr launisch. Auch in sozialen Konflikten oder einer Seuche
herrschen Gesetzmässigkeiten, die man immer besser erkennen und nutzen
kann. Selbstredend darf man die Existenz von Gesetzmässigkeiten nicht mit jener von
Interessenkonflikten verwechseln, deren Lösung eine politische Aufgabe ist.
Dass jeder seine eigene Wahrheit habe, ist aber eine auffallend oft von extremer
Seite eingenommene Position. Sie ist falsch. Ein Feiertag für die Wissenschaft
würde klar machen, dass die Wahrheit nicht selbstverständlich gekannt, sondern
mühsam errungen wird, dass die nötige Kunst des Wissens vor allem eine Kunst
des Unwissens ist, und dass nur Wissen wirklich frei macht.